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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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übersehener Zusammenhänge, vereitelter Hoffnungen und übler Gelüste – Jack, dem das Herz dicht unter der Zunge saß, glaubte all dies in der widerwärtigen Ausdünstung des Feuerballs wahrzunehmen. Die wimmernde Meute der Hundemutationen hatte sich aufgelöst in eine Drohung glitzernder Zähne, ein Flüstern verstohlener Bewegungen, das dumpfe Geräusch schwerer, beinloser Körper, die sich durch roten Staub schleppen. Wie viele waren es? Aus dem Wurzelwerk eines brennenden Baumes, der seine Krone im Stamm zu verstecken suchte, bleckten ihn zwei der deformierten Hunde mit langen Zähnen an.
    Dann taumelte ein weiterer Feuerball über den weiten Horizont und zog, weiter vom Zug entfernt, eine breite, glühende Spur, und Jack erhaschte einen Blick auf etwas, das sich an die kahle Flanke einer Anhöhe schmiegte und wie ein baufälliger kleiner Schuppen aussah. Vor ihm stand eine große, menschenähnliche Gestalt, die in seine Richtung blickte. Ein flüchtiger Eindruck von Größe, Haarigkeit, Kraft, Bosheit …
    Jack war sich der Langsamkeit von Anders’ kleinem Zug nur allzu bewusst – er und Richard waren allem ausgesetzt, was vorhatte, sie etwas genauer in Augenschein zu nehmen. Der erste Feuerball hatte die grässlichen Hunde verscheucht, aber menschliche Bewohner des Verheerten Landes mochten weniger leicht zu verscheuchen sein. Bevor die Helligkeit zu einer glimmenden Spur verdämmerte, sah Jack noch, dass die Gestalt vor dem Schuppen sie mit den Augen verfolgte, einen großen, zottigen Kopf drehte, als der Zug vorüberfuhr. Wenn das, was er gesehen hatte, Hunde waren – wie würden dann die Menschen aussehen? Im letzten Flackerschein des Feuerballs hastete das menschenähnliche Geschöpf um die Ecke seiner Behausung. Ein dicker Reptilienschwanz hing von seinem Hinterteil herunter, dann war das Ding um das Gebäude herum, und dann war es wieder dunkel, und nichts – weder Hunde noch Tiermensch oder Schuppen – war mehr zu sehen. Jack war sich nicht einmal sicher, ob er das Geschöpf wirklich gesehen hatte.
    Richard zuckte im Schlaf zusammen, und Jack presste im vergeblichen Versuch, mehr Geschwindigkeit herauszuholen, die Hand auf den primitiven Schalthebel. Das Winseln der Hunde hinter ihnen verebbte allmählich. Schwitzend hob Jack abermals das linke Handgelenk vor die Augen und stellte fest, dass seit seinem letzten Blick auf die Uhr nur fünfzehn Minuten vergangen waren. Zu seinem Erstaunen gähnte er wieder und bedauerte erneut, in der Station so viel gegessen zu haben.
    »NEIN!« kreischte Richard. »NEIN! ICH KANN DA NICHT HIN!«
    Dahin? Jack fragte sich, was mit »dahin« gemeint sein mochte. Kalifornien? Oder meinte er irgendeinen bedrohlichen Ort, einen Ort, an dem seine gefährdete Selbstbeherrschung, unberechenbar wie ein nicht eingerittenes Pferd, ihm endgültig entglitt?
     
    5
     
    Die ganze Nacht stand Jack am Schalthebel, während Richard schlief, und beobachtete, wie die Spuren der verschwundenen Feuerbälle auf der rötlichen Erdoberfläche flackerten. Der Geruch toter Blumen und verborgener Verderbnis erfüllte die Luft. Von Zeit zu Zeit drang das Gewinsel der Hunde oder anderer jämmerlicher Geschöpfe unter den Wurzeln der verkrüppelten, gekrümmten Bäume hervor, die nach wie vor die Landschaft punktierten. Dann und wann schossen blaue Lichtbögen aus den Batterien. Richard war in einem Zustand, der über bloßen Schlaf hinausging, eingehüllt in eine Bewusstlosigkeit, die er ersehnte und wohl auch brauchte. Er gab keine gequälten Ausrufe mehr von sich – er war in seiner Ecke des Führerhauses zusammengesunken und atmete ganz flach, als kostete ihn sogar das Atmen mehr Kraft, als er hatte. Halb sehnte sich Jack nach dem Tageslicht, halb fürchtete er es. Wenn der Morgen kam, würde er die Tiere sehen können – aber was würde er sonst noch sehen müssen?
    Von Zeit zu Zeit warf er einen Blick auf Richard. Die Haut seines Freundes kam ihm ungewöhnlich bleich vor; sie hatte einen gespenstischen Grauton angenommen.
     
    6
     
    Der Morgen kam mit dem Nachlassen der Dunkelheit. Ein rosa Band erschien am schüsselörmigen Rand des östlichen Horizonts, und bald darauf wuchsen rötliche Streifen aus ihm heraus und schoben das verheißungsvolle Rosa höher in den Himmel. Jack hatte das Gefühl, dass seine Augen fast so rot waren wie diese Streifen, und seine Beine schmerzten. Richard lag quer auf dem kleinen Sitz des Führerhauses, immer noch flach und fast widerwillig atmend. Jetzt

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