Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
Vom Netzwerk:
beleuchteten Türöffnung. Jack winkte ein letztes Mal, und der Schatten winkte zurück. Jack blickte wieder nach vorn, über die endlosen Getreidefelder, all diese sanfte Weite. Wenn es so aussah im Verheerten Land, dann standen ihnen zwei ausgesprochen geruhsame Tage bevor.
    Aber natürlich sah es dort nicht so aus, ganz und gar nicht. Selbst in der mondhellen Dunkelheit erkannte er, dass das Getreide sich lichtete, struppiger wurde – eine Veränderung, die ungefähr eine halbe Stunde nach Verlassen der Station eingetreten war; sogar die Farbe wirkte jetzt falsch, fast künstlich; es war nicht mehr das wundervoll organische Gelb, das er zuvor gesehen hatte, sondern das Gelb von etwas, das einer starken Hitzequelle zu nahe gekommen ist – das Gelb von etwas, in dem fast kein Leben mehr ist. Und der gleiche Eindruck ging jetzt von Richard aus. Eine Zeitlang hatte er stoßweise geatmet, dann hatte er so stumm und schamlos geweint wie ein sitzengelassenes Mädchen, schließlich war er in unruhigen Schlaf gefallen. »Kann nicht dahin zurück«, hatte er im Schlaf gemurmelt, das jedenfalls glaubte Jack zu verstehen. Im Schlaf schien er zu schwinden.
    Allmählich hatte sich der ganze Charakter der Landschaft geändert. An die Stelle der weithin rollenden Ebenen von Ellis-Breaks traten verschwiegene kleine Senken und dunkle, mit schwarzen Bäumen bedeckte Täler. Überall lagen riesige Felsbrocken herum, Schädel, Eier, Riesenzähne. Auch der Boden hatte sich verändert; er war viel sandiger geworden. Zweimal ragten die Flanken der Täler unmittelbar neben den Schienen auf, und Jack sah zu beiden Seiten nichts als rötliche, von niedrigen Kriechpflanzen überwucherte Klippen. Hin und wieder glaubte er ein Tier zu sehen, das in Deckung flüchtete, aber das Licht war zu schwach und das Tier zu schnell, als dass er es hätte identifizieren können. Dennoch hatte Jack das unbehagliche Gefühl, das Tier selbst dann nicht identifizieren zu können, wenn es am hellen Mittag reglos auf dem Rodeo Drive gestanden hätte – irgendwie hatte er den Eindruck, dass sein Kopf doppelt so groß war, wie er eigentlich sein sollte, und dass das Tier gut daran tat, sich vor menschlichen Augen zu verbergen.
    Als neunzig Minuten vergangen waren, stöhnte Richard im Schlaf, und die Landschaft ringsum war völlig fremdartig. Als sie aus dem zweiten der bedrängend engen Täler herauskamen, überfiel Jack ein Gefühl plötzlicher Weite – anfangs war es, als befände er sich wieder im Land der Tagträume. Dann war ihm, selbst im Dunkeln, aufgefallen, wie verkümmert und verkrüppelt die Bäume waren; schließlich hatte er den Geruch bemerkt. Wahrscheinlich hatte sich diese Wahrnehmung nur langsam in seinem Bewusstsein verdichtet; erst nachdem er gesehen hatte, wie sich die wenigen, über die schwarze Ebene verstreuten Bäume zusammenkrümmten wie gepeinigte Tiere, war ihm der schwache, aber unmissverständliche Geruch nach Verderbnis aufgefallen. Verderbnis, Höllenfeuer.
    Hier stank die Region, jedenfalls fehlte nicht viel daran.
    Der Geruch abgestorbener Blumen lag über dem Land; und darunter lag, wie bei Osmond, ein gröberer, durchdringenderer Geruch. Wenn Morgan in einer seiner beiden Rollen dafür verantwortlich war, dann hatte er nach Jacks Empfinden den Tod in die Region gebracht.
    Jetzt gab es keine engen Täler und Senken mehr; jetzt machte das Land den Eindruck einer ungeheuren roten Wüste. Die seltsam verkrüppelten Bäume punktierten ihre flachen Hänge. Vor Jack zog sich die silbrige Doppellinie der Schienen durch dunkle, rötliche Leere; beiderseits von ihm streckte sich leere Wüste ins Dunkel.
    Zumindest schien das rote Land irgendwie leer. Mehrere Stunden sah Jack tatsächlich nichts – außer den missgestalteten kleinen Tieren, die sich an den Hängen beiderseits des Gleiseinschnitts versteckten. Es gab Augenblicke, in denen er aus dem Augenwinkel heraus eine plötzliche, gleitende Bewegung wahrzunehmen glaubte. Doch sobald er den Kopf gedreht hatte, war sie verschwunden. Dann hatte er eine Weile, nicht länger als zwanzig oder dreißig Minuten, das beängstigende Gefühl, von den Hunde-Geschöpfen der Thayer School verfolgt zu werden. Überall, wo er hinblickte, hatte irgendetwas gerade aufgehört, sich zu bewegen, war hinter einen der verkrüppelten Bäume geglitten oder im Sand verschwunden. In dieser Zeitspanne kam ihm die große Wüste des Verheerten Landes nicht leer oder tot vor, sondern angefüllt mit behändem,

Weitere Kostenlose Bücher