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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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sah Jack, dass es stimmte – Richards Gesicht war seltsam grau. Seine Augenlider flatterten in einem Traum, und Jack hoffte, dass er nicht wieder einen seiner Schreie ausstieß. Richards Mund öffnete sich, aber was herauskam, war nur seine Zungenspitze, kein lauter Schrei. Richard fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe, schnarchte und verfiel dann wieder in seine komaähnliche Betäubung.
    Obwohl Jack sich verzweifelt danach sehnte, sich hinzusetzen und die Augen zu schließen, weckte er Richard nicht. Denn je mehr Jack sah, je mehr ihm das neue Licht die Einzelheiten des Verheerten Landes enthüllte, desto inbrünstiger hoffte er, dass Richards Bewusstlosigkeit andauerte, solange er das Stehen in Anders’ kleinem Zug aushielt. Er war alles andere als begierig darauf, Richard Sloats Reaktion auf die Eigentümlichkeiten des Verheerten Landes zu erleben. Ein bisschen Schmerzen, ein gewisses Maß an Erschöpfung, das war nur ein geringer Preis für etwas, das – wie er recht gut wusste – nur vorübergehende Ruhe war.
    Was er durch seine zusammengekniffenen Augen sah, war eine Landschaft, in der es nichts gab, das nicht verkrüppelt war, das nicht Schaden gelitten hatte. Im Mondschein hatte sie ausgesehen wie eine endlose, mit Bäumen bestandene Wüste. Jetzt sah Jack, dass diese Wüste keine war. Was er für rötlichen Sand gehalten hatte, war lockere, pulverige Erde – sie sah aus, als könne man bis zu den Knöcheln, wenn nicht gar bis zu den Knien darin versinken. In dieser mageren, ausgedörrten Erde wuchsen die erbärmlichen Bäume. Direkt betrachtet, sahen sie tatsächlich so aus, wie sie ihm in der Nacht vorgekommen waren – so verkrüppelt, dass es den Anschein hatte, als versuchten sie, sich unter ihre eigenen gewundenen Wurzeln zurückzuwinden. Das war schlimm genug – schlimm genug für Richard den Vernünftigen. Aber wenn man einen dieser Bäume von der Seite sah, aus einem Augenwinkel heraus, dann sah man ein Lebewesen, das Qualen litt; die verkrümmten Äste waren Arme, hochgereckt über ein gepeinigtes, in einem Schmerzensschrei erstarrtes Gesicht. Jedes Mal, wenn Jack die Bäume nicht direkt anschaute, sah er ein gequältes Gesicht bis ins kleinste Detail – das offene O des Mundes, die starrenden Augen und die schlaff herabhängende Nase, die langen Schmerzensfalten, die sich über die Wangen zogen. Sie fluchten, flehten, schrien ihn an – ihre unhörbaren Stimmen hingen in der Luft wie Rauch. Jack stöhnte. Wie alles im Verheerten Land waren auch die Bäume vergiftet.
    Das rötliche Land erstreckte sich meilenweit nach beiden Seiten, hier und dort unterbrochen von Flächen sauer aussehenden gelben Grases, das glänzte wie Urin oder frische Farbe. Ohne die grässliche Farbe des langen Grases hätten diese Flächen Oasen geglichen, denn jede lag neben einem kleinen, runden Wassertümpel. Das Wasser war schwarz, und auf seiner Oberfläche trieben ölige Flecken. Irgendwie wirkte es dicker als Wasser, ölig, giftig. Der zweite dieser Tümpel, den Jack sah, begann träge zu wallen, als der Zug vorüberfuhr, und zuerst dachte Jack voller Grauen, dass das schwarze Wasser selbst lebendig war, ein Lebewesen, das ebensolche Qualen litt wie die Bäume, die er nicht mehr sehen wollte. Doch dann sah er, wie etwas die Oberfläche dieser dicken Flüssigkeit durchbrach, ein breiter schwarzer Rücken oder eine Flanke, die herumrollte, bis ein breites, gieriges Maul zum Vorschein kam, sich schnappend schloss. Eine Andeutung von Schuppen, die geschillert hätten, wenn der Tümpel dem Geschöpf nicht die Farbe genommen hätte. Großer Gott, dachte Jack, war das ein Fisch? Er hatte den Eindruck, als wäre es fast sechs Meter lang, viel zu groß für den kleinen Tümpel. Ein langer Schwanz peitschte das Wasser auf, bevor das ganze, riesige Geschöpf wieder in die wahrscheinlich beträchtliche Tiefe des Tümpels zurückglitt.
    Jack warf einen scharfen Blick auf den Horizont; ihm war, als hätte einen Augenblick lang ein Kopf über ihn hinweggespäht. Und dann überkam ihn wieder ein Gefühl plötzlicher Verwirrung, das gleiche Gefühl, das auch der Anblick des Ungeheuers von Loch Ness – oder was es sonst gewesen sein mochte – in ihm ausgelöst hatte. Wie in aller Welt konnte ein Kopf über den Horizont hinwegspähen?
    Weil der Horizont gar nicht der richtige Horizont war, begriff er schließlich – die ganze Nacht hindurch, bis er jetzt sah, was am Rande seines Gesichtsfeldes lag, hatte er die Ausmaße

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