Der Talisman
Bäume sind zwar beweglich, aber sie kommen nicht weit. Selbst ein lahmer Vogel wie du sollte imstande sein, vor einem Baum davonzulaufen.«
Er erreichte die letzte Kurve der Straße, die an den letzten Lagerschuppen vorbei bergab führte. Der Talisman rief nach ihm, unablässig und unüberhörbar. Schließlich hatte er die Kurve hinter sich, und der Rest von Point Venuti lag vor ihm.
Das, was von Jason in ihm steckte, hielt ihn in Gang. Point Venuti mochte einmal ein hübscher Ferienort gewesen sein, aber diese Zeit lag lange zurück. Jetzt war Point Venuti selbst der Oatley-Tunnel, und er musste durch ihn hindurch. Die rissige, zersprungene Oberfläche der Straße führte hinab zu einem Areal mit ausgebrannten, von Bäumen der Region umstandenen Häusern – wahrscheinlich hatten einst die Arbeiter aus den leeren Fabriken und Lagerschuppen in ihnen gewohnt. Von einem oder zweien der Häuser war noch so viel übrig geblieben, dass man erkennen konnte, wie sie ausgesehen hatten. Hier und dort lagen die verkrümmten Karosserien ausgebrannter Autos neben den Häusern, von hohem Unkraut überwuchert. Durch die geborstenen Fundamente der kleinen Häuser bahnten sich langsam die Wurzeln der Bäume ihren Weg. Geschwärzte Ziegelsteine und Bretter, umgestürzte und zerschlagene Badewannen, verbogene Rohre lagen auf dem Gelände herum. Jack sah etwas Weißes aufblitzen, aber er wendete den Blick ab, sobald er erkannt hatte, dass es ein weißer Knochen war, der zu einem unter dem Wurzelwust verhakten Skelett gehörte. Früher waren Kinder auf Fahrrädern durch diese Straßen gestoben, Hausfrauen hatten sich in Küchen getroffen, um über Preise und Arbeitslosigkeit zu klagen, Männer hatten vor ihren Häusern Autos poliert – aber das war einmal. Eine umgestürzte Schaukel ragte rostverkrustet aus Geröll und Unkraut.
Am trüben Himmel zuckten rötliche Flackerlichter auf.
Zwischen den beiden Blocks mit den ausgebrannten Häusern und den gierigen Bäumen hing eine tote Ampel über der leeren Straßenkreuzung. Jenseits der Kreuzung waren an der Wand eines verkohlten Gebäudes noch ein paar Buchstaben einer Reklame zu erkennen – UH OH! BETTER GET MAA – und darunter das pockennarbige, blasige Bild vom Vorderteil eines Autos, das aus einer Schaufensterscheibe herausragte. Das Feuer hatte sich nicht weiter ausgebreitet, aber Jack wünschte, es hätte es getan. Point Venuti war eine verbrannte Stadt; und Feuer war besser als Fäulnis. Das Gebäude mit der halbzerstörten Reklame für Maaco-Farben war das erste in einer Reihe von Geschäften. Die Dangerous Planet-Buchhandlung, Tea & Sympathy, Ferdys Gesunde Biokost, Neon Village; Jack konnte nur einige der Aufschriften über den Läden entziffern, denn zumeist war die Farbe schon vor langer Zeit abgeblättert. Die Läden schienen geschlossen zu sein, so verlassen wie die Fabriken und Lagerschuppen. Sogar von da aus, wo er stand, konnte Jack erkennen, dass die Schaufensterscheiben schon vor so langer Zeit zerbrochen waren, dass sie aussahen wie leere Brillengestelle, die blicklosen Augen von Idioten. Hingeklatschte Farbe schmückte die Fassaden der Läden, rot und schwarz und gelb; in dem trüben Licht sahen die Farbflecke aus wie grelle Narben. Eine nackte Frau, so abgezehrt, dass Jack ihre Rippen hätte zählen können, drehte sich auf der mit Unrat übersäten Straße vor den Geschäften langsam um sich selbst, zeremoniös wie eine Wetterfahne. Das Gesicht über dem bleichen Körper mit seinen Hängebrüsten und dem verfilzten Schamhaar war leuchtend orangerot angemalt. Auch ihr Haar war orangefarben. Jack blieb stehen und beobachtete, wie die Irre mit dem angemalten Gesicht und dem gefärbten Haar die Arme hob, den Oberkörper langsam zur Seite drehte, ihren linken Fuß über dem fliegenübersäten Kadaver eines Hundes ausstreckte und in dieser Position erstarrte wie eine Statue. Dann senkte sich langsam der Fuß, und der abgezehrte Körper drehte sich zurück.
Hinter der Frau, hinter der Reihe leerer Läden wurde die Main Street zum Wohngebiet – jedenfalls vermutete Jack, dass dort einst das Wohngebiet gelegen hatte. Auch hier entstellten grelle Farbnarben die Gebäude, zweistöckige Häuschen, einst weiß gestrichen, jetzt mit hingeklatschter Farbe und Graffiti bedeckt. Ein Slogan sprang ihm entgegen: DU BIST JETZT TOT, an die Wand eines isolierten, abblätternden Gebäudes gemalt, das vermutlich einmal ein Gasthaus gewesen war. Die Worte standen schon seit langer
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