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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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verkündete die Wand. Er würde nicht in die Fenster blicken, versprach er sich, er konnte es nicht.
    Orangefarbene Gesichter mit orangefarbenem Haar darüber lugten durch ein Erdgeschoßfenster.
    »Baby«, flüsterte eine Frau im nächsten Haus. »Süßer kleiner Jason.«
    Diesmal sah er hin. Du bist jetzt tot. Sie stand hinter einer zerbrochenen kleinen Fensterscheibe, spielte mit der Kette, die durch ihre Brustwarzen gezogen war, lächelte ihn schief an. Jack starrte in ihre leeren Augen, und die Frau ließ die Hände sinken und wich zögernd vom Fenster zurück. Die Kette schaukelte zwischen ihren Brüsten.
    Augen verfolgten Jack aus dem Hintergrund dunkler Zimmer, durch Latten hindurch, aus Kriechräumen unter Veranden.
    Das Hotel ragte vor ihm auf, lag aber jetzt nicht mehr genau vor ihm. Die Straße musste eine Biegung gemacht haben; das Agincourt stand jetzt zu seiner Linken. Und ragte es wirklich noch so beherrschend auf, wie es zuvor den Anschein gehabt hatte? Das, was von Jason in ihm steckte, oder Jason selbst flammte in Jack auf, und er erkannte, dass das schwarze Hotel zwar noch immer groß war, aber keineswegs riesig.
    KOMM ICH BRAUCHE DICH JETZT, rief der Talisman. DU HAST RECHT, ES IST NICHT SO GROSS, WIE DU GLAUBEN SOLLST.
     
    Auf der Kuppe des letzten Hügels blieb er stehen und blickte hinunter. Da waren sie, in der Tat, alle miteinander. Und da war das schwarze Hotel, das ganze Hotel. Die Main Street führte zum Strand hinunter, der aus weißem Sand bestand, unterbrochen durch große Gesteinsbrocken, die aussahen wie zerklüftete, verfärbte Zähne. Das Agincourt stand ein Stück zu seiner Linken, an der dem Meer zugewandten Seite von einem Wellenbrecher aus massigen Steinen flankiert, der weit ins Wasser hinausreichte. Davor parkte, nebeneinander aufgereiht, ein Dutzend langer, schwarzer Limousinen, einige staubig, andere spiegelblank poliert, mit laufenden Motoren. Weiße Schwaden, weißer als die Luft, drifteten aus den Auspuffrohren. Männer in den dunklen Anzügen von FBI-Agenten patrouillierten am Zaun entlang, die Hände zu den Augen emporgehoben. Als Jack vor dem Gesicht eines der Männer zwei rote Lichtblitze aufflackern sah, huschte er hinter die Seitenwand eines der kleinen Häuser; er bewegte sich, bevor ihm richtig bewusst geworden war, dass die Männer Feldstecher hatten.
    In den ein oder zwei Sekunden auf der Hügelkuppe hatte er dagestanden wie auf dem Präsentierteller. Ihm war klar, dass ein Augenblick der Sorglosigkeit fast zu seiner Entdeckung geführt hätte; er atmete stoßweise und lehnte die Schulter gegen die grauen Schindeln der Hauswand. Dann rückte er Richard auf seinem Rücken in eine bequemere Position.
    Immerhin wusste er jetzt, dass er sich dem Hotel nur von der Seeseite her nähern konnte. Das hieß, dass er den Strand ungesehen überqueren musste.
    Er richtete sich wieder auf, spähte um die Ecke des Hauses. Morgan Sloats dezimierte Armee saß in den Limousinen oder wimmelte, so ziellos wie Ameisen, vor dem hohen schwarzen Zaun herum. Einen verrückten Augenblick lang erinnerte sich Jack bis ins kleinste Detail an den ersten Blick, den er auf den Sommerpalast der Königin geworfen hatte. Auch damals stand er oberhalb einer Szenerie, in der Leute scheinbar ziellos durcheinander wimmelten. War es hier ebenso, wie es dort gewesen war? An jenem Tag – der so weit zurücklag, dass er in vorgeschichtliche Zeiten zu gehören schien – war von der Menge vor dem Pavillon eine Aura des Friedens, der Ordnung ausgegangen. Jack wusste, dass diese Aura jetzt verschwunden war. Jetzt beherrschte Osmond die Szene vor dem großen, zeltartigen Gebilde, und die Leute, die mutig genug waren, den Pavillon zu betreten, würden mit abgewandten Gesichtern hineinhasten. Und was war mit der Königin? fragte sich Jack. Die Erinnerung an dieses bestürzend vertraute, von weißen Bettlaken umgebene Gesicht drängte sich ihm auf.
    Und dann hätte Jacks Herz beinahe zu schlagen aufgehört; das Bild des Pavillons und der kranken Königin verschwand vor seinem inneren Auge. Sunlight Gardener erschien in seinem Blickfeld, einen Lautsprecher in der Hand. Der Seewind blies ihm eine dicke, weiße Haarsträhne über die Sonnenbrille. Einen Augenblick lang glaubte Jack, die Mischung aus süßlichem Kölnisch Wasser und Dschungelfäule zu riechen. Vielleicht fünf Sekunden lang vergaß er zu atmen. Er stand an der rissigen, abblätternden Schindelwand und starrte hinunter, wo ein Wahnsinniger

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