Der Talisman
wie gewachsener Fels: es war ein Ort, an dem sein grober, bäurischer Vater nie auftauchen würde. Wenn sein Vater je versuchen sollte, einen Fuß auf den Campus von Yale zu setzen, würde etwas passieren. Wie dieses Etwas aussah, wusste der Schüler Sloat nicht so Recht aber er hatte das Gefühl, dass es ihm ungefähr so gehen würde wie der bösen Hexe, die sich einfach auflöste, als Dorothy einen Eimer Wasser über ihr ausleerte. Und offenbar hatte er mit seinen Vermutungen recht gehabt: sein Vater setzte nie einen Fuß auf den Campus von Yale. Vom ersten Tag an, den Morgan dort verbrachte, schwand die Macht, die Gordon Sloat über seinen Sohn ausgeübt hatte – und schon das lohnte all die Mühen und Anstrengungen.
Aber jetzt, wo er mit geballten Fäusten dastand und seine Nägel sich in seine weichen Handflächen bohrten, sprach sein Vater zu ihm: Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und verlöre doch seinen eigenen Sohn?
Für einen Augenblick füllte der feuchte, vergilbte Geruch – der Geruch nach leerem Hotel, der Großmuttergeruch, der Todesgeruch – seine Nase, schien ihn ersticken zu wollen, und Morgan Sloat/Morgan von Orris hatte Angst.
Was hülfe es dem Menschen …
Im Buch vom guten Wirtschaften heißt es, ein Mann soll die Frucht seines Samens nicht zu einer Opferstätte bringen, denn wenn er es tut …
Was hülfe es …
… dann soll dieser Mann verdammt sein, verdammt, verdammt.
… dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und verlöre doch seinen eigenen Sohn?
Stinkender Verputz. Der trockene Geruch uralten Mäusedrecks, der sich in den dunklen Räumen hinter den Wänden in Pulver verwandelte. Irre. Irre, die sich auf den Straßen herumtrieben.
Was hülfe es dem Menschen?
Tot. Ein Sohn tot in jener Welt, ein Sohn tot in dieser.
Was hülfe es dem Menschen?
Dein Sohn ist tot, Morgan. Muss tot sein. Tot im Wasser – tot unter den Pfählen und dort treibend oder tot – ganz zweifellos! – oberhalb von ihnen. Konnte es nicht schaffen. Konnte nicht …
Was hülfe es …
Und plötzlich hatte er die Antwort.
»Es hülfe ihm, die Welt zu gewinnen!« schrie Morgan in den vermoderten Raum. Er begann wieder herumzuwandern. »Es hülfe dem Menschen, die Welt zu gewinnen, und bei Jason, die Welt ist genug!«
Lachend wanderte er immer schneller herum, und wenig später tropfte Blut aus seinen geballten Fäusten.
Ungefähr zehn Minuten später fuhr draußen ein Wagen vor. Morgan trat ans Fenster und sah Sunlight Gardener aus dem Cadillac springen.
Sekunden darauf hämmerte er mit beiden Fäusten gegen die Tür wie ein Dreijähriger, der in einem Wutanfall auf den Fußboden trommelt. Morgan sah, dass der Mann restlos den Verstand verloren hatte, und fragte sich, ob das gut oder schlecht war.
»Morgan!« bellte Gardener. »Lassen Sie mich herein! Neuigkeiten! Ich habe Neuigkeiten!«
Deine Neuigkeiten habe ich längst durch meinen Feldstecher gesehen. Hämmere ruhig noch eine Weile gegen die Tür, Gardener, bis ich zu einem Entschluss gekommen bin. Ist es gut, dass du so verrückt bist, oder schlecht?
Gut, entschied Morgan. In Indiana hatte Sunlight es im entscheidenden Moment mit der Angst zu tun bekommen und war geflüchtet, ohne das Problem Jack ein für allemal zu klären. Aber jetzt hatte sein unbeherrschter Kummer ihn wieder vertrauenswürdig gemacht. Wenn Morgan einen Kamikazepiloten brauchte, würde Sunlight Gardener als erster ins Flugzeug springen.
»Lassen Sie mich rein, Morgan! Neuigkeiten! Neuigkeiten! Neu …«
Morgan öffnete die Tür. Obwohl er zutiefst erregt war, wirkte das Gesicht, das er Gardener zeigte, fast unheimlich gelassen.
»Immer mit der Ruhe«, sagte er. »Ganz ruhig, Gard. Sonst platzt Ihnen noch eine Ader.«
»Sie sind ins Hotel gegangen – am Strand – haben auf sie geschossen, als sie am Strand waren – blöde Arschlöcher, haben nicht getroffen – im Wasser, dachte ich – wir kriegen sie im Wasser – und dann kamen die Meerestiere – ich hatte ihn im Visier – ich hatte den schlechten Jungen GENAU IM VISIER – und dann – die Tiere – sie – sie …«
»Beruhigen Sie sich«, sagte Morgan besänftigend. Er schloss die Tür und zog eine Flasche aus der Innentasche. Er reichte sie Gardener, der sie aufschraubte und zwei große Schlucke nahm. Morgan wartete. Sein Gesicht war huldvoll und gelassen, doch auf seiner Stirn pulsierte eine Ader, und seine Hände öffneten und schlossen sich, öffneten und schlossen
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