Der Talisman
Sprosse. Jack legte seine Hände auf Richards magere Hüften. »Ich hebe dich hoch. Versuch nicht mit den Füßen zu strampeln – zieh dich nur so weit hoch, dass du das Knie auf die Sprosse bekommst. Zuerst gehst du mit den Händen eine Sprosse höher.« Richard öffnete ein Auge und tat es.
»Bist du soweit?«
»Ja.«
Das Floß glitt vorwärts, aber Jack stemmte Richard so weit hoch, dass er sein rechtes Knie auf die unterste Sprosse legen konnte. Dann packte Jack die Holme der Leiter und stabilisierte mit Armen und Beinen das Floß. Richard grunzte und versuchte, das andere Knie auf die Sprosse zu bekommen; eine Sekunde später hatte er es geschafft. Weitere zwei Sekunden später stand Richard Sloat aufrecht auf der Leiter.
»Weiter komme ich nicht«, sagte er. »Ich glaube, ich falle herunter. Mir ist so schlecht, Jack.«
»Bitte versuch, noch eine höher zu kommen. Bitte. Dann kann ich dir helfen.«
Mühsam verlagerte Richard seine Hände eine Sprosse höher. Jack warf einen Blick nach oben und stellte fest, dass die Leiter an die zehn Meter lang war. »Und jetzt die Füße. Bitte, Richard.«
Langsam setzte Richard erst den einen und dann den anderen Fuß auf die zweite Sprosse.
Jack legte die Hände außerhalb von Richards Füßen um die Sprosse und zog sich hoch. Das Floß schwang in einem weiten Halbkreis herum, aber er zog die Knie an und fand mit beiden Beinen auf der untersten Sprosse sicheren Halt. Von Jacks Hemd gehalten, schwang das Floß zurück wie ein Hund an der Leine.
Als sie ein Drittel der Leiter hinter sich hatten, musste Jack einen Arm um Richards Taille legen, um zu verhindern, dass er in das schwarze Wasser hinabstürzte.
Endlich zeichnete sich das Rechteck der Falltür direkt über Jacks Kopf in dem schwarzen Holz ab. Er sicherte Richard, indem er mit der linken Hand um Richard herum die Leiter ergriff, während er mit der rechten die Falltür zu öffnen versuchte. Wenn sie nun zugenagelt war? Aber sie schwang auf und schlug flach auf die Oberseite der Plattform. Jack schob den linken Arm unter Richards Achselhöhlen und zog ihn durch die Öffnung aus der Dunkelheit heraus.
Zwischenspiel
Sloat in dieser Welt (V)
Das Kingsland Motel hatte fast sechs Jahre leergestanden; es hatte jetzt den dumpfen Geruch nach vergilbten Zeitungen, den alle Gebäude haben, die lange nicht benutzt wurden. Anfangs hatte der Geruch Sloat gestört. Seine Großmutter war zu Hause gestorben, als er noch ein Kind war – sie hatte vier Jahre dazu gebraucht, aber schließlich hatte sie es doch geschafft –, und der Geruch ihres Sterbens war so ähnlich gewesen wie dieser. In einem Augenblick, in dem er seinen größten Triumph zu feiern hoffte, wollte er weder einen solchen Geruch noch solche Erinnerungen.
Doch jetzt spielte das keine Rolle mehr. Nicht einmal die Verluste, die ihm Jack bei seiner verfrühten Ankunft in Camp Readiness beigebracht hatte, spielten jetzt eine Rolle. Seine anfängliche Wut war einer nervöshektischen Erregung gewichen. Mit gesenktem Kopf, zuckenden Lippen und glänzenden Augen durchwanderte er das Zimmer, in dem er und Richard damals gewohnt hatten. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken, fuhr sich mit ihnen über den kahlen Schädel. Meist jedoch lief er herum wie einst im College, die Hände so zu Fäusten geballt, dass sich die Nägel tief in seine Handflächen bohrten. Sein Magen fühlte sich abwechselnd sauer und schwindelerregend leicht an.
Die Dinge näherten sich ihrem Höhepunkt.
Nein; nein. Richtig gedacht, falsch ausgedrückt.
Die Dinge kamen zusammen.
Richard ist mittlerweile tot. Mein Sohn ist tot. Muss tot sein. Er hat das Verheerte Land überlebt – mit Mühe und Not –, aber das Agincourt überlebt er nicht. Er ist tot. Mach dir in dieser Hinsicht keine falschen Hoffnungen. Jack Sawyer hat ihn auf dem Gewissen, und dafür quetsche ich ihm bei lebendigem Leibe die Augen aus.
»Aber ich habe ihn auch auf dem Gewissen«, flüsterte Morgan und unterbrach seine Wanderung einen Augenblick.
Plötzlich dachte er an seinen Vater.
Gordon Sloat war ein strenger lutherischer Pastor in Ohio gewesen. Morgan hatte seine gesamte Kindheit damit verbracht, vor diesem harten, beängstigenden Mann die Flucht zu ergreifen. Endlich war er nach Yale entkommen. In seinem letzten Jahr an der High School war sein ganzes Sinnen und Trachten auf Yale gerichtet gewesen, vor allem aus einem Grund, den er sich nicht bewusst eingestand, der aber so tief gründete
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