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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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halbwegs zivilisierten Menschen zu machen, bevor man ihnen schließlich die Binde von den Augen riss. So belanglos sich das alles angesichts des Einsatzes ausnahm, um den er jetzt spielte, konnte er doch nicht vergessen, was die Sawyers ihm zu verdanken hatten – Sodbrennen stieg in seiner Brust auf wie ein Herzanfall, wenn er daran dachte, wie viel sie ihm zu verdanken hatten; und bevor er seinen Wagen auf dem noch von der Sonne beschienenen Parkplatz neben dem Gebäude erreicht hatte, schob er die Hand in die Jackentasche und fischte eine zerknüllte Packung Di-Gel heraus.
    Phil Sawyer hatte ihn unterschätzt, und das nagte noch immer an ihm. Weil Phil ihn für eine Art dressierter Klapperschlange gehalten hatte, die man nur unter strenger Kontrolle aus ihrem Käfig herausließ, hatten andere es auch getan. Der Parkwächter, ein Hinterwäldler mit einem verbeulten Cowboyhut, ließ ihn nicht aus den Augen, als er um seinen Wagen herumwanderte und nach Beulen und Kratzern Ausschau hielt. Das Di-Gel hatte den größten Teil des Feuerballs in seiner Brust schmelzen lassen. Der Parkwächter hütete sich vor jeder Anbiederung; eine Woche zuvor hatte Sloat dem Mann buchstäblich das Fell über die Ohren gezogen, nachdem er in der Tür des BMW eine winzige Delle entdeckt hatte. Mitten in seiner Tirade hatte er gesehen, wie Gewalttätigkeit die grünen Augen des Hinterwäldlers zu verdunkeln begann, und plötzlich aufkommende Freude hatte ihn veranlasst, auf den Mann zuzugehen, ihn nach wie vor beschimpfend, fast in der Hoffnung, der Parkwächter würde ihm einen Schlag versetzen. Doch von einer Sekunde zur anderen hatte der Hinterwäldler den Rückzug angetreten und schwächlich, ja sogar reumütig angedeutet, dass dieses winzige Nichts von einer Delle vielleicht woanders entstanden sein mochte. Vielleicht auf dem Parkplatz eines Restaurants? Nach der Art, wie das Pack dort mit den Wagen umgeht, und schließlich ist das Licht um diese Zeit auch nicht so gut, also …
    »Machen Sie Ihr stinkendes Maul zu«, hatte Sloat gesagt. »Dieses kleine Nichts, wie Sie es nennen, kostet mich ungefähr das Doppelte von dem, was Sie in der Woche verdienen. Ich sollte Sie auf der Stelle hinauswerfen, Sie Cowboy, und der einzige Grund, warum ich es nicht tue, ist die ungefähr zweiprozentige Möglichkeit, dass Sie recht haben könnten; als ich gestern Abend bei Chasen’s herauskam, habe ich vielleicht nicht unter den Türgriff geschaut; vielleicht tat ich es, vielleicht tat ich es auch nicht. Aber wenn Sie mich noch einmal anquasseln, wenn Sie jemals mehr sagen als ›Guten Tag, Mr. Sloat‹ und ›Auf Wiedersehen, Mr. Sloat‹, dann fliegen Sie so schnell, dass Sie nicht wissen, ob Sie Ihren Kopf noch auf den Schultern haben.« Also sah der Hinterwäldler nur zu, wie Sloat seinen Wagen inspizierte; er wusste, wenn Sloat auch nur die kleinste Unvollkommenheit in der Politur des Wagens entdeckte, würde er die Axt niedersausen lassen; er hatte sogar Angst, nahe genug an ihn heranzutreten, um den rituellen Abschiedsgruß zu murmeln. Gelegentlich hatte Sloat von dem Fenster, das auf den Parkplatz hinausging, beobachtet, wie der Wächter mit Feuereifer etwas von der Haube des BMW wischte, etwas Vogeldreck oder einen Schlammspritzer. So etwas nennt sich Management, mein Lieber.
    Als er den Parkplatz verließ, warf er einen Blick in den Rückspiegel und sah auf dem Gesicht des Hinterwäldlers einen Ausdruck, der Phil Sawyers Miene in den letzten Sekunden seines Lebens, draußen in Utah in der Mitte von Nirgendwo, sehr ähnlich war. Er lächelte, bis er die Auffahrt zum Freeway erreicht hatte.
     
    Philipp Sawyer hatte Morgan Sloat unterschätzt, von ihrer ersten Begegnung an, als sie Erstsemester in Yale waren. Vielleicht, überlegte Sloat, war er leicht zu unterschätzen gewesen – ein dicklicher Achtzehnjähriger aus Akron, unbeholfen, von Befürchtungen und Bestrebungen belastet, zum ersten Mal in seinem Leben außerhalb von Ohio. Wenn er hörte, wie seine Kommilitonen sich beiläufig über New York unterhielten, über das »21« und den Stork Club, über Brubeck in Basin Street und Erroll Garner im Vanguard, hatte es ihn Schweiß gekostet, seine Unwissenheit zu verbergen. »Mir gefällt die Downtown-Gegend besonders gut«, hatte er eingeworfen, so beiläufig, wie er nur konnte. Nasse Handflächen, in die sich verkrampfte Finger bohrten. (Morgens zeigten Sloats Handflächen oft ein Muster kleiner Wunden, die seine Fingernägel

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