Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
Vom Netzwerk:
aufdrängten, etwas waren, das er aus dem Wald empfing – fast so, als sendeten die Bäume sie auf irgendeiner grauenhaften Kurzwelle aus.
    Aber die Flasche mit Speedys Zaubersaft war nur noch halb voll, und sie musste für den ganzen Weg durch die Vereinigten Staaten ausreichen. Sie würde nicht einmal durch die Neuengland-Staaten reichen, wenn er jedes Mal, wenn er nervös wurde, einen kleinen Schluck nahm.
    Außerdem kehrten seine Gedanken immer wieder zu der erstaunlichen Entfernung zurück, die er in seiner Welt hinter sich gebracht hatte, als er aus der Region zurückgeflippt war. Fünfzig Meter hier waren so viel wie achthundert Meter dort. Das hieß – es sei denn, das Verhältnis der zurückgelegten Strecken schwankte, was Jack für durchaus möglich hielt –, dass er hier fünfzehn Kilometer laufen konnte und dort schon fast die Grenze von New Hampshire erreicht hatte. Es war, als trüge man Siebenmeilenstiefel.
    Aber die Bäume – diese grauen, teigigen Wurzeln.
    Wenn es richtig dunkel wird – wenn sich der Himmel von Blau zu Purpur verfärbt –, dann flippe ich zurück. Punktum. Ich wandere nicht im Dunkeln durch diesen Wald. Und wenn mir in Indiana oder sonst wo der Zaubersaft ausgeht, kann mir Speedy eine andere Flasche schicken, mit der Post oder durch reitenden Boten.
    Immer noch mit diesen Gedanken beschäftigt – und denkend, um wie viel wohler er sich fühlte, nachdem er einen Plan hatte (selbst wenn er auch nur die nächsten zwei oder drei Stunden umfasste) –, wurde sich Jack plötzlich bewusst, dass er ein weiteres Fahrzeug und zahlreiche Pferde hörte.
    Mit zur Seite geneigtem Kopf blieb er mitten auf der Straße stehen. Seine Augen weiteten sich, und plötzlich rollten zwei Bilder wie von einer Filmkamera abgespult an seinem inneren Auge vorüber: der große Wagen, in dem die beiden Männer gesessen hatte – der Wagen, der kein Mercedes gewesen war –, und dann der WILD CHILD-Lieferwagen, der über Onkel Tommys Leichnam hinwegjagte und von dessen zersplittertem Kühlergrill das Blut herabtroff. Er sah Hände am Lenkrad des Lieferwagens – aber es waren keine Hände. Es waren ganz eindeutig Hufe.
    In vollem Galopp macht dieser verdammte Leichenkarren ein Geräusch wie Donner, der über die Erde rollt.
    Jetzt, da er es hörte – noch weit entfernt, aber ganz deutlich in der klaren Luft –, fragte sich Jack, wie er nur hatte glauben können, es habe sich bei den anderen herannahenden Fahrzeugen um Morgans Kutsche gehandelt. Dieser Irrtum würde ihm gewiss nicht noch einmal unterlaufen. Das Geräusch, das er jetzt hörte, war unheildrohend, bis zum Bersten angefüllt mit der Kraft des Bösen – das Geräusch eines Leichenkarrens, in der Tat, eines Leichenkarrens, der von einem Teufel gefahren wurde.
    Er stand starr auf der Straße, fast hypnotisiert wie ein Kaninchen im Scheinwerferlicht eines Autos. Das Geräusch wurde ständig lauter – das Donnern von Rädern und Hufen, das Knarren von Ledergeschirr. Jetzt hörte er auch die Stimme des Kutschers: »Hüü-ahh! Hüüü-aaah! HÜÜÜ-AAAH!«
    Er stand auf der Straße, stand einfach da, und der Kopf dröhnte ihm vor Entsetzen. Ich kann mich nicht rühren, oh Gott, oh Jesus, ich kann mich nicht rühren, Mom Mom Mommmeee …
    Er stand auf der Straße, und vor seinem inneren Auge sah er ein schwarzes Ding wie eine Postkutsche auf der Straße heranjagen, gezogen von schwarzen Tieren, die Pumas ähnlicher sahen als Pferden; er sah schwarze Vorhänge, die die Fenster der Kutsche umflatterten; er sah den Kutscher auf dem wippenden Fußbrett stehen, mit flatterndem Haar, die Augen so wild und irre wie die eines Psychopathen mit einem Schnappmesser.
    Er sah sie mit unverminderter Geschwindigkeit auf sich zukommen.
    Er sah, wie sie ihn überrollte.
    Das löste seine Lähmung. Er rannte nach rechts, glitt den Straßenrand hinunter, sein Fuß verhakte sich unter einer dieser knorrigen Wurzeln, er fiel, rollte. In seinem Rücken, der in den letzten Stunden relativ ruhig gewesen war, flackerte frischer Schmerz auf, und sein Mund verzerrte sich vor Qual.
    Er kam wieder auf die Füße und huschte geduckt in den Wald.
    Er verbarg sich hinter dem ersten der schwarzen Bäume, aber der knorrige Stamm – er hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit den Banyanbäumen, die er im vorletzten Jahr gesehen hatte, als sie in Hawaii Ferien machten – fühlte sich ölig und widerwärtig an. Jack glitt nach links hinter den Stamm einer Kiefer.
    Das Donnern der Kutsche

Weitere Kostenlose Bücher