Der Talisman
Kopf voll mit anderen Dingen, und seine Kumpane auch. Sie warten darauf, dass die Königin stirbt. Das wird bald geschehen. Es sei denn …«
Er beendete seinen Satz nicht.
»Geh«, sagte Farren. »Mach dich auf den Weg. Und wenn du Morgans Kutsche kommen hörst, dann verschwinde von der Straße und verdrück dich tief in den Wald. Ganz tief. Sonst riecht er dich, wie eine Katze die Ratte riecht. Er weiß sofort, wenn etwas nicht in Ordnung ist. In seiner Ordnung. Er ist ein Teufel.«
»Werde ich sie kommen hören? Seine Kutsche?« fragte Jack verängstigt. Er spähte über die zerbrochenen Fässer hinweg die Straße entlang. Sie führte stetig zum Rand eines Nadelwaldes hinauf. Es würde dunkel sein dort drinnen, dachte er – und Morgan kam aus der anderen Richtung. Angst und Einsamkeit verbanden sich zur spürbarsten, entmutigendsten Woge von Elend, die ihn je überspült hatte. Speedy, ich schaffe es nicht! Ich schaffe es wirklich nicht! Ich bin doch nur ein Kind!
»Morgans Kutsche wird von sechs Paar Pferden und einem dreizehnten als Leitpferd gezogen«, sagte Farren. »In vollem Galopp macht dieser verdammte Leichenkarren ein Geräusch wie Donner, der über die Erde rollt. Du kannst es nicht überhören. Und du hast reichlich Zeit, dich zu verkriechen. Aber verkriech dich.«
Jack flüsterte etwas.
»Wie?« fragte Farren scharf.
»Ich sagte, ich will nicht gehen«, sagte Jack, nur eine Spur lauter. Er war den Tränen nahe und wusste, wenn er jetzt zu weinen anfing, dann hatte er verloren; er musste gelassen bleiben und Hauptmann Farren bitten, ihn herauszuholen, ihn zu beschützen, irgendetwas …
»Ich glaube, was du willst, spielt jetzt keine Rolle mehr«, sagte Hauptmann Farren. »Ich kenne deine Geschichte nicht, Junge, und ich will sie auch nicht kennen lernen. Ich will nicht einmal wissen, wie du heißt.«
Jack stand da und sah ihn an, mit hängenden Schultern, brennenden Augen, bebenden Lippen.
»Reiß dich zusammen!« brüllte ihn Farren mit plötzlicher Wut an. »Wen willst du retten? Wo willst du hin? Keine drei Meter weit, so wie du aussiehst! Du bist zu jung, um ein Mann zu sein, aber wenigstens kannst du so tun, als wärst du einer, oder? Du siehst aus wie ein getretener Hund!«
Betroffen straffte Jack seine Schultern und unterdrückte die Tränen. Sein Blick fiel auf die Überreste des Kutscherjungen, und er dachte: Ich liege wenigstens nicht so auf der Straße, noch nicht. Selbstmitleid ist ein Luxus, den ich mir nicht leisten kann. Es stimmte. Trotzdem konnte er nicht umhin, den Hauptmann ein wenig zu hassen, weil er imstande gewesen war, einfach in ihn hineinzufassen und auf die richtigen Knöpfe zu drücken.
»Besser«, sagte Farren trocken. »Nicht viel, aber ein wenig.«
»Danke«, sagte Jack sarkastisch.
»Du kannst nicht mehr aussteigen, Junge. Osmond ist hinter dir her. Und Morgan wird auch bald hinter dir her sein. Und vielleicht gibt es da, wo du herkommst, auch Probleme. Aber nimm dies. Wenn Parkus dich zu mir geschickt hat, dann wollte er auch, dass ich es dir gebe. Also nimm es, und dann geh.«
Er hielt ihm eine Münze entgegen. Jack zögerte, dann nahm er sie. Sie war so groß wie ein Kennedy-Halbdollar, aber viel schwerer – so schwer wie Gold, vermutete er, obwohl sie von trübsilberner Farbe war. Die eine Seite zeigte das Gesicht von Laura DeLoessian im Profil – und wieder war er, kurz, aber heftig, betroffen von der Ähnlichkeit mit seiner Mutter. Nein, es war nicht nur Ähnlichkeit – trotz äußerlicher Unterschiede wie der schmaleren Nase und dem runderen Kinn war sie seine Mutter. Jack wusste es. Er drehte die Münze um und sah ein Tier mit dem Kopf und den Flügeln eines Adlers und dem Körper eines Löwen. Es schien Jack anzusehen. Es machte ihn ein wenig nervös, und er steckte die Münze in die Tasche, zu der Flasche mit Speedys Zaubersaft.
»Wozu ist sie gut?« fragte er Farren.
»Das wirst du zu gegebener Zeit erfahren«, erwiderte der Hauptmann. »Vielleicht auch nicht. Jedenfalls habe ich meine Pflicht dir gegenüber erfüllt. Berichte es Parkus, wenn du ihn wieder siehst.«
Jack hatte das Gefühl, von einer Woge von Unwirklichkeit überspült zu werden.
»Geh, mein Sohn«, sagte Farren. Seine Stimme war leiser, aber deshalb nicht unbedingt sanfter. »Erfülle deinen Auftrag – oder so viel davon, wie du kannst.«
Letzten Endes war es dieses Gefühl der Unwirklichkeit – das überwältigende Gefühl, nicht mehr zu sein als das Produkt von
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