Der tanzende Tod
selbst wenn es ein uneheliches Kind wäre.
»Das ist ein Trost«, meinte Mrs. Howard. »Ich erinnere mich an ihn als an einen äußerst vernünftigen jungen Burschen.«
»Sie erinnern sich an ihn? Sie kannten ihn, bevor er England verließ?«
»Nicht gut, sollte ich wohl sagen. Es steht mir natürlich nicht zu, darüber zu urteilen. Aber beim Personal gab es viele, die darüber froh waren, dass er dem alten Richter die Stirn bot und Miss Marie aus dem Hause Fonteyn fortbrachte.
Dies war das Beste, was ihr je zustieß. Es tut mir so Leid, zu hören, dass – dass sich die Dinge so entwickelten, wie sie es nun einmal taten.«
»Wie war sie damals?«, fragte ich. Plötzlich spürte ich einen Kloß in meinem Halse angesichts der Möglichkeit, einen Blick in die Vergangenheit eines anderen Menschen zu werfen. Ein Teil von mir wollte nichts mit Mutter zu tun haben, aber ein anderer Teil wollte alles über sie wissen. Es war, als wenn man an Schorf zupfte, um zu sehen, ob er von einer geheilten Wunde abfallen oder sich schmerzhaft ablösen würde, nur um wieder anzufangen zu bluten.
»Oh, sie war ein sehr schönes Mädchen. Manchmal ruhig und manchmal sehr halsstarrig. Sie war nicht das, was ich als allzu weltgewandt bezeichnen würde, aber schließlich konnte der Richter auch nicht viel mit einer Frau anfangen, die mehr lernte als das, was sie benötigte, um einen Haushalt zu führen. Sie pflegte sehr geschickte Handarbeiten anzufertigen.«
»Mutter? Ruhig?«
»Schweigsam. Da gibt es einen Unterschied«, meinte sie mit traurigem Gesicht.
»Ich habe meine Milch ausgetrunken«, teilte uns Richard mit. Seine Augen waren weit aufgerissen, und sein Gesichtsausdruck wirkte nachdenklich und besorgt. Selbst wenn er nicht viel von unserem Gespräch verstand, war er feinsinnig genug, um die negativen Emotionen dahinter zu erfassen und darüber besorgt zu sein.
»Was für ein braver kleiner Bursche du doch bist!«, rief sie beifällig, wobei sie rasch ihrem Auftreten eine fröhlichere Wendung gab. »Bist du nun bereit, zu Bett zu gehen?«
»Nein, bitte. Ich möchte mit Vetter Jon'th'n spielen.«
Nanny Howard warf mir einen warnenden Blick zu, welchen ich mir zu Herzen nahm. »Wir werden morgen Abend wieder zusammen spielen, mein Kleiner, sonst bekommen wir beide Ärger. Wir müssen tun, was Nanny sagt, verstehst du? Sie weiß es am besten.«
Widerstrebend ließ er es zu, dass er zu Bett gebracht wurde, und sie steckte die Decke um ihn herum fest.
»Eine Geschichte, bitte?«, bat er so flehend, wie es nur einem Vierjährigen gelingen kann. Ich fühlte erneut, wie sich ein Kloß in meinem Halse bildete, aber aus einem vollkommen anderen Grunde als zuvor. Mrs. Howard interpretierte meinen Gesichtsausdruck richtig. Sie suchte aus einem Stapel Büchlein auf einem Regal eines aus und legte es mir in meine wartenden Hände.
Das Thema des Buches hatte mit dem Alphabet zu tun und bot zahlreiche lehrreiche Verse der Art »A steht für Apfel«. Richard und ich gingen es gemeinsam durch, indem er auf die Buchstaben zeigte, sie benannte und mitmurmelte, während ich den Rest des Textes vorlas. Er schien das Buch auswendig zu kennen, aber dies spielte keine Rolle. Mir war erzählt worden, dass ich ebenfalls Lieblingsgeschichten gehabt hatte und nie genug von ihrer Wiederholung bekommen konnte. Als ich zu dem »M steht für Maus«-Vers kam, war er eingeschlafen.
»Ich danke Ihnen, Mrs. Howard«, flüsterte ich, indem ich Anstalten machte, auf den Zehenspitzen hinauszuschleichen.
»Seien Sie gesegnet, Sir, aber Sie sind derjenige, dem zu danken wäre. Ich glaube, Sie sind das Beste, was dem Kinde passieren konnte.«
»Dies kann ich nur hoffen. Für mich ist die Situation völlig neu, und ich bin so frei zu sagen, dass ich Ihre Anleitung sehr zu schätzen weiß, wenn Sie so freundlich wären.«
»Gewiss, Sir.«
»Und was die Nahrungsmittel betrifft, so werde ich dafür sorgen, dass Oliver sich darum kümmert, sodass die Auslese aus der ländlichen Speisekammer des Fonteyn-Hauses Ihnen zur Verfügung stehen wird. Wird dies ausreichen, bis ich mein eigenes Haus außerhalb der Stadt finde?«
»Es wird mehr als ausreichen, Sir.«
Ich sprang geradezu durch die Halle zu meinem Zimmer, wo Jericho wartete, um die durch meine kürzlich erfolgte Balgerei entstandenen Schäden zu reparieren. Anfangs war unsere Unterhaltung ein wenig einseitig, da ich fast ohne Pause über Richard redete, bis es an der Zeit für meine Rasur war. Jericho
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