Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition)
seine Stimme eine halbe Oktave höher und wollte Annie sprechen.
Der Butler war am Telefon. »Tut mir leid, Sir«, sagte er, »aber ich glaube nicht, daß sie jetzt Gespräche entgegennimmt. Möchten Sie Ihren Namen
hinterlassen?«
»Sagen Sie ihr, Bob Counsel wollte sie sprechen«, sagte Rice. Counsel war der Sohn eines Mannes, der mit Münzwaschsalons sehr reich geworden war. Er verbrachte die meiste Zeit
im Country Club. Er war in Annie verliebt.
»Ich habe Ihre Stimme nicht gleich erkannt, Mr. Counsel«, sagte der Butler. »Bitte, bleiben Sie am Apparat, Sir, wenn Sie so freundlich sein wollen.«
Sekunden später war Annies Mutter am Telefon. Sie wollte so verzweifelt glauben, daß der Anrufer der höfliche und attraktive und respektable Bob Counsel war, daß sie auch
nicht den allerleisesten Argwohn schöpfte. Und sie übernahm fast das gesamte Reden, so daß Rice nur hin und wieder grunzen mußte.
»O Bob, o Bob, o Bob –, Sie lieber Junge«, sagte sie. »Wie nett, wie schrecklich nett von Ihnen, daß Sie anrufen. Ich habe ja förmlich darum
ge betet ! Sie muß mit einem Gleichaltrigen sprechen. Ihr Vater und ich haben mit ihr gesprochen, und ich glaube, sie hat uns
gehört, aber heutzutage ist ja eine solche Kluft zwischen den Generationen. Diese Sache –, diese Sache, die Annie durchgemacht hat«, sagte Annies Mutter, »also, das ist
eher wie ein Nervenzusammenbruch als wie irgendwas anderes. Es ist kein echter Nervenzusammenbruch, aber sie ist nicht mehr sie selbst –, ist nicht mehr die Annie, die wir kennen.
Verstehen Sie, was ich zu sagen versuche?«
»Ja«, sagte Rice.
»Sie wird ja so froh sein, von Ihnen zu hören, Bob –, zu wissen, daß sie immer noch ihre alten Freunde hat, ihre richtigen Freunde, auf die sie zurückgreifen
kann. Wenn sie Ihre Stimme hört«, sagte die Frau des Gouverneurs, »weiß sie, daß alles wieder gut wird.«
Sie ging, um Annie zu holen –, und hatte mit ihr ein Hin-und-her-Gerangel, welches Rice am Telefon hören konnte. Annie sagte, sie hasse Bob Counsel, finde ihn einen Trottel,
einen Stockfisch und ein Muttersöhnchen. An diesem Punkt dachte jemand daran, die Sprechmuschel zuzuhalten, weshalb Rice nichts mehr hörte, bis Annie ans Telefon kam.
»Hallo«, sagte sie leer.
»Ich hab’ gedacht, vielleicht macht dir eine kleine Spritztour Spaß –, daß du mal auf andere Gedanken kommst«, sagte Rice.
»Was?« sagte Annie.
»Hier ist Rice«, sagte er. »Sag deiner Mutter, du gehst in den Klub, um mit dem guten, alten Bob Counsel Tennis zu spielen. Wir treffen uns an der Tankstelle Sechsundvierzigste
Ecke Illinois.«
So zogen sie eine halbe Stunde später wieder mit dem alten blauen Ford des Jungen los, und Babyschuhe baumelten am Rückspiegel, und auf dem geplatzten Rücksitz stapelten sich die
Comics.
Das Autoradio sang, als Annie und Rice die Stadtgrenzen hinter sich ließen:
Oh, Baby, Baby, Baby,
Ein neuer Morgen tagt,
Weil deine süße Liebe, Baby,
Den schwarzen Blues verjagt.
Und wieder begann die erregende Verfolgungsjagd.
Annie und Rice überquerten die Staatsgrenze nach Ohio auf einer wenig befahrenen kleinen Landstraße und hörten, was das Radio, das sich gegen das Gerassel von
Kies unter den Kotflügeln durchsetzen mußte, über sie erzählte.
Ungeduldig hatten sie den Nachrichten über einen Aufstand in Bangalore zugehört, einen Flugzeugzusammenstoß in Irland, einen Mann, der in West Virginia seine Frau mit
Nitroglyzerin in die Luft gesprengt hatte. Die größte Nachricht hatte der Nachrichtensprecher sich für den Schluß aufgespart –, daß Annie und Rice, Julia und
Romeo, wieder Schnitzeljagd spielten.
Der Nachrichtensprecher nannte Rice »Rick«. So hatte man ihn noch nie genannt, und Rice und Annie gefiel es.
»Ich werde dich nur noch Rick nennen«, sagte Annie.
»Soll mir recht sein«, sagte Rice.
»Du siehst viel mehr aus wie ein Rick als wie ein Rice«, sagte Annie. »Wieso haben sie dich überhaupt Rice genannt?«
»Habe ich dir das nie erzählt?« sagte Rice.
»Wenn«, sagte sie, »hab’ ich’s vergessen.«
Tatsache war, daß Rice ihr etwa ein dutzendmal erzählt hatte, warum er Rice genannt worden war, aber sie hörte ihm nie richtig zu. Er hörte ihr aber auch nie richtig zu.
Beide hätten sich dumm und krumm gelangweilt, wenn sie zugehört hätten, aber das ersparten sie sich.
Deshalb waren ihre Gespräche wahre Wunder an Bedeutungslosigkeit. Es gab nur zwei gemeinsame Themen –,
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