Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition)
Senkrechtstarter
von einst. Eine ausgezeichnete alternative Wochenzeitung in Indianapolis, NUVO , bat mich erst vor einem Monat um einen Gratis-Essay
darüber, wie es ist, ein Eingeborener aus dem Mittleren Westen zu sein. Ich habe der Bitte folgendermaßen entsprochen:
»War je ein Mann so voller Schand’, an Seel’ so tot und so verzagt, daß er nie bei sich selbst gesagt: ›Dies ist mein eigen, ist mein eingeboren
Land!‹?«
Diese berühmte Feier hirnloser Vaterlandsliebe des Schotten Sir Walter Scott (1771–1832) läuft, ihres Hurrapatriotismus entkleidet, nur hierauf hinaus: Menschenwesen kommen zu
ihrem eigenen Besten so reviergebunden auf diese Welt wie Timberwölfe oder Honigbienen. Vor gar nicht langer Zeit war es für Menschen, wenn sie sich zu weit von ihrem Geburtsort und ihren
Verwandten entfernt hatten, gleichbedeutend mit Selbstmord.
Diese Furcht davor, wohlverstandene geographische Grenzen zu überschreiten, hat in vielen Teilen der Welt immer noch einen Sinn, in Europa zum Beispiel dort, wo einst Jugoslawien war, oder
in Afrika in Rwanda. Fast überall in Nordamerika ist sie jedoch jetzt, Gott sei Dank dafür, Gott sei Dank dafür, instinktivisches Übergepäck. In diesem Land lebt sie, wie
dies aussterbende Überlebensinstinkte oft tun, in Form von Sitten und Gefühlen weiter, die im großen und ganzen harmlos sind und oft sogar komisch sein können.
So sagen ich und Millionen meinesgleichen Fremden, wir seien aus dem Mittleren Westen, als hätten wir dafür, daß wir das sind, eine Art Orden verdient. Alles, was ich zu unserer
Verteidigung sagen kann, ist, daß die Eingeborenen von Texas und Brooklyn in ihrem Revierwahn von noch groteskerer Eitelkeit sind.
Nahezu zahllose Filme über Texaner und Brooklynesen sind für solche Menschen Lektionen, wie sie sich immer stereotyper benehmen können. Warum gibt es bis heute keine Filme
über angeblich typische Helden aus dem Mittleren Westen, Vorbilder, denen wir uns dann angleichen könnten?
Alles, was ich bisher habe, ist ein aggressiv nasaler Akzent.
Über diesen Akzent: Als ich während des Zweiten Weltkriegs in der Armee war, sagte ein weißer Südstaatler zu mir: » Müßt ihr eigentlich so reden?«
Ich hätte vielleicht erwidert: »Ach ja? Immerhin haben meine Vorfahren nie Sklaven besessen«, aber die Übungsstunde auf dem Schießplatz von Fort Bragg in North
Carolina schien weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort, um ihn abzukanzeln.
Ich hätte dann noch hinzufügen können, daß einige der goldensten Worte, die je in der amerikanischen Geschichte gesprochen wurden, in genau diesem
Maultrommel-doing-doing-doing-Tonfall geäußert worden sind, einschließlich Abraham Lincolns (aus Illinois) Gettysburg Address und
einschließlich der folgenden Worte von Eugene V. Debs aus Terre Haute, Indiana: »Solang es eine Unterklasse gibt, gehöre ich ihr an; solang eine Menschenseele im Gefängnis
schmachtet, bin ich nicht frei.«
Für mich behalten hätte ich, daß die Grenzen von Indiana, als ich ein Junge war, nicht nur den Geburtsort von Eugene V. Debs bargen, sondern auch das Bundeshauptquartier des
Ku-Klux-Klan.
Illinois hatte Carl Sandburg und Al Capone.
Ja, und das Ding oben auf dem Haus, welches das Wetter draußen hält und überall in der Anglophonie roof heißt, ist eigentlich ein ruff , und der Bach hinter dem Haus ist kein creek , sondern ein crick .
Jede Rasse und Unterrasse ist mitsamt sämtlichen nur möglichen Mischungen dem Mittleren Westen eigentümlich. Ich selbst bin ein reinrassiger Kraut. Unsere
Akzente sind alles andere als einheitlich. Mein Doing-Akzent ist für die Euro-Amerikaner, die in einer gewissen Entfernung zu den früheren Konföderierten Staaten von Amerika
aufwachsen, nur einigermaßen typisch. Als ich begann, diesen Aufsatz zu schreiben, wurde mir klar, daß ich mich vergeblich mühe, daß wir insgesamt nur als das beschrieben
werden können, was wir nicht sind. Wir sind keine Texaner oder Brooklynesen oder Kalifornier oder Südstaatler und so weiter.
Um mir selbst die Idiotie zu demonstrieren, uns, einen nach dem anderen, von anderswo geborenen Amerikanern absetzen zu wollen, stellte ich mir eine Menschenmenge in der Fifth Avenue in New York
vor, wo ich jetzt lebe, und eine weitere Menschenmenge in der State Street in Chicago, wo ich vor einem halben Jahrhundert eine Universität besucht und als Reporter gearbeitet habe. Was die
Gleichheit der Gesichter und Klamotten und
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