Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition)
lediglich die Überlegung an,
die Briten nähmen weit mehr Nahrung zu sich, als ihrer Rasse zuträglich sei.
Kleinhans zwirbelte seinen Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart und stand mit Hilfe seiner antiken, einen Meter achtzig langen Flinte auf. »Ihr sprecht zuviel über Essen. Deshalb werden die
Amerikaner den Krieg verlieren –, ihr seid alle verweichlicht.« Er sah Kniptash gezielt an, der immer noch bis zu den Nasenlöchern in eingebildeten Pfannkuchen, Eiern und
Honig schwelgte. »Na los, zurück an die Arbeit.« Es war ein Vorschlag.
Die drei amerikanischen Soldaten blieben innerhalb des unüberdachten Gehäuses eines Gebäudes inmitten zerschmetterten Mauerwerks und Bauholzes in Dresden, Deutschland, sitzen. Es
war Anfang März 1945. Kniptash, Donnini und Coleman waren Kriegsgefangene. Stabsunteroffizier Kleinhans war ihr Bewacher. Er sollte sie dazu anhalten, die Milliarde Tonnen von Schutt zu
ordentlichen Steinpyramiden aufzuhäufen, Stein auf Stein, um dem nicht existierenden Verkehr Platz zu machen. Eigentlich wurden die drei Amerikaner für kleinere Verstöße gegen
die Lagerdisziplin bestraft, aber ihr Geschick war, wenn sie jeden Morgen unter den traurigen blauen Augen des desinteressierten Kleinhans zur Arbeit auf den Straßen ausrückten, weder
besser noch schlechter als das ihrer Kameraden hinter Stacheldraht, die größeres Wohlverhalten an den Tag gelegt hatten. Kleinhans verlangte nur, daß sie beschäftigt wirkten,
wenn Offiziere vorbeikamen.
Nahrung war das einzige, was die Kriegsgefangenen auf ihrer schmalen Existenzebene begeistern konnte. Patton war hundert Meilen entfernt. Wenn man Kniptash, Donnini und Coleman über die
herannahende Dritte Armee reden hörte, konnte man meinen, ihre Angriffsspitze bestünde nicht aus Infanterie und Panzern, sondern aus einer Phalanx von Küchenbullen und
Gulaschkanonen.
»Los, los«, sagte Stabsunteroffizier Kleinhans wieder. Er bürstete sich Mörtelstaub von der schlechtsitzenden Uniform, dem dünnen, billigen Grau des Volkssturms, der
mitleiderregenden Armee alter Männer. Er sah auf die Uhr. Ihre Stunde zum Essenfassen, die aus dreißig Minuten ohne Essen bestanden hatte, war vorbei.
Donnini blätterte eine weitere Minute lang sehnsüchtig in seinem Notizbuch, bevor er es in die Brusttasche zurücksteckte und mühsam auf die Beine kam.
Der Notizbuchfimmel hatte angefangen, als Donnini Coleman sagte, wie man Pizza bäckt. Coleman hatte sich das in einem von mehreren Notizbüchern aufgeschrieben, die er sich in einem
ausgebombten Papierwarenladen besorgt hatte. Dies Erlebnis befriedigte ihn so sehr, daß alle bald davon besessen waren, ihre Notizbücher mit Rezepten zu füllen. Dadurch, daß
sie die Symbole für Nahrung schriftlich niederlegten, fühlten sie sich irgendwie viel näher an der wahren Sache dran.
Jeder hatte sein Büchlein in Abteilungen gegliedert. Kniptash hatte zum Beispiel vier Hauptabteilungen: »Nachtisch, den ich probieren werde«, »Wie man Fleisch gut
hinkriegt«, »Kleinigkeiten« und »Diess & Dass«.
Coleman schrieb weiter mißmutig Druckbuchstaben in sein Notizbuch. »Wieviel Sherry?«
»Trockenen Sherry –, er muß trocken sein«, sagte Donnini. »Etwa eine Dreivierteltasse.« Er sah, daß Kniptash in
seinem Notizbuch etwas ausradierte. »Was ist los? Änderst du es in eine Gallone Sherry um?«
»Nein. Daran habe ich gar nicht gearbeitet. Ich habe etwas anderes geändert. Ich habe meine Meinung geändert, was ich zuerst haben will.«
»Was?« fragte Coleman fasziniert.
Donnini zuckte zusammen. Kleinhans ebenfalls. Die Notizbücher hatten den spirituellen Konflikt zwischen Donnini und Kniptash verstärkt, hatten ihn in Schwarz und Weiß definiert.
Die Rezepte, die Kniptash beisteuerte, waren üppig, prächtig, sie verdankten sich dem Augenblick. Donninis waren kompromißlos authentisch, künstlerisch. Coleman war dazwischen
gefangen. Es war Gourmet gegen Gourmand, Feinschmecker gegen Vielfraß, Künstler gegen Materialist, die Schönheit gegen das Biest. Donnini war für einen Verbündeten
dankbar, selbst für Stabsunteroffizier Kleinhans.
»Noch nichts sagen«, sagte Coleman blätternd. »Erst wenn ich die erste Seite gesehen habe.« Der wichtigste Teil jedes Notizbuchs war, bei weitem, die erste Seite.
Man hatte sich darauf geeinigt, sie dem Gericht zu widmen, auf welches sich jeder am meisten freute. Auf seiner ersten Seite hatte Donnini liebevoll die Formel für Anitra
al Cognac
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