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Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition)

Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition)

Titel: Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Vonnegut
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streckte die Arme über den Kopf. »Marta! Spürst du es, spürst du es? Die Russen sind weg, Marta, sie sind weg!«
    Und jetzt versuchten wir, das Gesicht des amerikanischen Kommandanten zu sehen, der in das Gebäude gegenüber einzog –, wo noch ein paar Wochen zuvor der russische Kommandant
gewesen war. Die Amerikaner gingen hinein, indem sie sich tretend einen Weg durch Müll und zersplitterte Möbel bahnten. Eine Zeitlang gab es nichts durch mein Fenster zu sehen. Ich lehnte
mich auf meinem Stuhl zurück und schloß die Augen.
    »Es ist vorbei, das Morden ist endlich vorbei«, sagte ich, »und wir sind am Leben. Hättest du das für möglich gehalten? Hätte irgend jemand, der bei Sinnen
ist, erwartet, noch am Leben zu sein, wenn das vorbei ist?«
    »Ich komme mir fast so vor, als müßte ich mich schämen, weil ich noch lebe«, sagte sie.
    »Der Welt wird es wahrscheinlich lange, lange so vorkommen. Du kannst wenigstens Gott dafür danken, daß du alles mit sehr wenig Schuld an all dem Morden überstanden hast.
Mittendrin hilflos gewesen zu sein, hat diesen Vorteil. Denk an die Schuld auf den Schultern der Amerikaner –, einhunderttausend Tote bei den Bombardements von Moskau,
fünfzigtausend in Kiew ...«
    »Was ist mit der Schuld der Russen?« sagte sie leidenschaftlich.
    »Nein –, nicht die Russen. Das ist eine der Freuden, wenn man einen Krieg verliert. Man übergibt seine Schuld zusammen mit seiner Hauptstadt und reiht sich bei den
unschuldigen kleinen Leuten ein.«
    Die Katze rieb ihre Flanken gegen mein Holzbein und schnurrte. Ich vermute, die meisten Männer mit Holzbein verbergen diese Tatsache, so gut sie können. Ich habe mein linkes Bein als
österreichischer Infanterist 1916 verloren und trage ein Hosenbein kürzer als das andere, um mit dem schicken hölzernen Pflock anzugeben, den ich mir nach dem Ersten Weltkrieg
gedrechselt habe. In den Pflock geschnitzt sind die Abbilder von Georges Clemenceau, David Lloyd George und Woodrow Wilson, die der tschechischen Republik 1919 geholfen haben, sich aus den
Trümmern des österreichisch-ungarischen Imperiums zu erheben, als ich fünfundzwanzig war. Und unter diesen Abbildern sind zwei weitere, beide in einem Kranz:
Tomá[ š ] Masaryk und Edvard Bene[ š ], die ersten Führer der Republik. Es wären noch mehr Gesichter hinzuzufügen, und nun, da wieder
Friede mit uns ist, werde ich sie vielleicht schnitzen. Die einzige Schnitzerei, die ich in den letzten dreißig Jahren vorgenommen habe, ist roh und obskur und vielleicht
barbarisch –, drei tiefe Kerben nahe der eisernen Spitze, für die drei deutschen Offiziere, deren Auto ich eines Nachts im Jahre 1943, während der Nazi-Besatzung, einen Berg
hinunterschickte.
    Diese Männer gegenüber waren nicht die ersten Amerikaner, die ich je gesehen habe. Zu Zeiten der Republik besaß ich eine Möbelfabrik in Prag und machte oft Geschäfte
mit Einkäufern für amerikanische Warenhäuser. Als die Nazis kamen, verlor ich meine Fabrik und zog nach Beda, dieser stillen Stadt in den Gebirgsausläufern des Sudetenlandes.
Meine Frau starb kurz darauf an der seltensten aller Ursachen heutzutage, an Altersschwäche. Da blieb mir nur noch meine Tochter Marta.
    Jetzt, Gott sei gelobt, sah ich wieder Amerikaner –, nach den Nazis, nach der Russischen Armee des Zweiten Weltkriegs, nach den tschechischen Kommunisten und wieder nach den Russen.
Ich wußte, daß dieser Tag kommen würde, und das hat mich am Leben erhalten. Unter den Dielenbrettern meiner Werkstatt war eine Flasche Scotch versteckt, die beständig meine
Willenskraft auf die Probe gestellt hatte. Aber ich habe sie in ihrem Versteck gelassen. Sie sollte mein Geschenk an die Amerikaner sein, wenn sie endlich kamen.
    »Sie kommen raus«, sagte Marta.
    Ich öffnete die Augen und sah einen stämmigen rothaarigen amerikanischen Major, der mich von der anderen Straßenseite anstarrte, die Hände auf den Hüften. Er sah
müde und verärgert aus. Ein weiterer junger Mann, ein Hauptmann, groß, massiv und langsam und bis auf die Statur sehr italienisch aussehend, schritt aus dem Gebäude, um sich
ihm anzuschließen.
    Dummerweise, vielleicht, sah ich sie blinzelnd ebenfalls an. »Sie kommen herüber!« sagte ich aufgeregt und hilflos.
    Der Major und der Hauptmann traten ein, beide in eine blaue Broschüre vertieft, die, nahm ich an, tschechische Redensarten enthielt. Der große Hauptmann schien gehemmt, und ich
spürte, daß der rothaarige

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