Der taubenblaue Drache / eBook (German Edition)
ich.
»Er arbeitet mit keiner Bank, außer um die Schecks einzulösen, die er in einem Weidenkorb unter seinem Zeichentisch aufbewahrt«, sagte Hal. »Besorg mir diesen
Weidenkorb!«
Ottos Heim und Arbeitsstätte liegt dreißig Meilen außerhalb der Stadt, in einer Wildnis mit Wasserfall. Es sieht ungefähr aus wie eine
Streichholzschachtel auf einer Garnrolle, hat ringsum gläserne Wände, und das untere Geschoß, die Garnrolle, ist ein fensterloser Ziegelzylinder.
Auf dem Gästeparkplatz standen bereits vier Autos, als ich ankam. Eine kleine Cocktailparty war im Gange. Als ich das Haus umrundete und mich fragte, wie man wohl hineinkam, hörte ich,
wie oben jemand gegen eine Glaswand klopfte. Ich blickte auf und sah die aufregendste und, auf bizarre Weise, eine der schönsten Frauen meines bewußten Lebens.
Sie war groß und schlank, und ihre subtil muskulöse Figur stak in einem Trikot mit Zebrastreifen. Ihr Haar war silbern gebleicht und hatte einen Stich ins Blaue, und das weiße
und perfekte Oval ihres Gesichts umschloß Augen von glitzerndem Grün, gegen bemalte Augenbrauen abgesetzt, pechschwarz und gebogen. Sie trug einen Ohrring, einen barbarischen Goldreifen.
Sie vollführte spiralenartige Bewegungen mit der Hand, und schließlich verstand ich, daß ich die Wendelrampe hochkommen sollte, die sich um den Ziegelzylinder wand.
Die Rampe brachte mich auf einen Laufsteg außerhalb der Glaswände. Ein ragender, kraftvoller Mann Anfang dreißig ließ eine Glasschiebetür beiseite gleiten und bat
mich herein. Er trug einen lavendelfarbenen Nylon-Overall und Sandalen. Er war nervös, und seine tiefliegenden Augen sahen müde aus.
»Mr. Krummbein?« sagte ich.
»Wer sollte ich sonst sein?« sagte Otto. »Und Sie müssen der Zauberer der Hochfinanz sein. Wir können in mein Studio gehen, da ist es privater, und
dann ...«, er zeigte auf die Frau, »... können Sie mit uns was trinken.«
Sein Studio war in dem Ziegelzylinder, und er führte mich durch eine Tür und eine weitere Wendelrampe hinunter in dieses hinein. Es gab keine Fenster. Das gesamte Licht war
künstlich.
»Ich glaube, dies ist das modernste Haus, in dem ich jemals gewesen bin«, sagte ich.
»Modern?« sagte Otto. »Es hinkt zwanzig Jahre hinter der Zeit her, aber es ist das beste, das meine Phantasie zuwege gebracht hat. Alles andere hinkt mindestens hundert Jahre
hinter der Zeit her, und deshalb sind wir unzufrieden, rennen den Psychiatern die Bude ein, zerrütten unsere Familien, führen Kriege. Wir haben es nicht gelernt, unser Leben für
unsere Zeit zu entwerfen. Unser Leben prallt mit unserer Zeit zusammen. Sehen Sie sich Ihre Klamotten an! Schatten von 1910. Sie sind nicht für das Jahr 1954 angezogen.«
»Vielleicht nicht«, sagte ich, »aber ich bin dafür angezogen, Menschen beim Umgang mit ihrem Geld zu helfen.«
»Sie werden von Tradition erstickt«, sagte Otto. »Warum sagen Sie nicht: ›Ich werde mir ein Leben für mich aufbauen, für meine Zeit, und es zu einem Kunstwerk
machen‹? Ihr Leben ist kein Kunstwerk –, es ist ein Regal voll viktorianischem Krimskrams aus dritter Hand, komplett mit der Sammlung Strandmuscheln und handgeschnitzten Elefanten
von jemand anderem.«
»Jawoll«, sagte ich und setzte mich auf eine sechseinhalb Meter lange Couch. »Das ist mein Leben, ganz recht.«
»Entwerfen Sie Ihr Leben wie die finnische Karaffe da drüben«, sagte Otto, »sauber, harmonisch, von der kühlen, herben Seele der Wahrheit in unserer Zeit belebt. Wie
Falloleen.«
»Ich werde es versuchen«, sagte ich. »Hauptsächlich geht es erst mal darum, den Kopf über Wasser zu halten. Was ist Falloleen, eine neue Wunderfaser?«
»Meine Frau«, sagte Otto. »Sie ist schwer zu übersehen.«
»Im Trikot«, sagte ich.
»Haben Sie je eine Frau gesehen, die so gut in ihre Umgebung paßt wie sie –, die selbst für das zeitgenössische Leben entworfen zu sein scheint?« sagte
Otto. »Etwas Seltenes, glauben Sie mir. Ich habe viele berühmte Schönheiten hier draußen gehabt, aber Falloleen ist die einzige, die nicht wie ein überladenes
Stilmöbel aus dem Jahre 1920 wirkt.«
»Seit wann sind Sie verheiratet?« sagte ich.
»Die Party oben ist zur Feier eines Monats glückseligster Ehe«, sagte Otto, »von Flitterwochen, die nie enden werden.«
»Wie nett«, sagte ich. »Und jetzt, um mir ein Bild von Ihren Finanzen machen zu können ...«
»Versprechen Sie mir nur das eine«, sagte er, »seien Sie nicht
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