Der tausendfältige Gedanke
erschienen sie ihm stets als Hinweise auf etwas Größeres. Und obwohl er es war, der mit Scheusalen ritt, schien alles Widerliche am Horizont hinter ihm zu lauern. Der Norden kam ihm immer despotischer, der Westen immer tyrannischer vor.
Sie zogen mit geröteten Augen weiter. Mondfahle und besonnte Landschaften lösten einander ab, und Cnaiür verfiel darauf, sich mit den Seltsamkeiten seiner Seele zu beschäftigen. Er vermutete, wahnsinnig zu sein, doch je mehr er über dieses Wort nachgrübelte, desto ungewisser erschien ihm seine Bedeutung. Mehrmals hatte er als Häuptling einem Ritual Vorsitzen müssen, bei dem den Utemot, die die Stammesältesten für geisteskrank erklärt hatten, die Kehle durchgeschnitten worden war. Glaubte man den Geschichtssängern, so verwilderten Menschen wie Hunde oder Pferde und mussten darum auch wie sie getötet werden. Die Inrithi dagegen hielten Wahnsinn für ein Werk der Dämonen.
Zu Beginn des Heiligen Kriegs hatte der Hexenmeister eines Abends – Cnaiür wusste nicht mehr, warum – eine Landkarte des Gebiets der Drei Meere genommen und das grobe Pergament auf ein bis zum Rand mit Wasser gefülltes Kupferbecken gedrückt. Zuvor hatte er verschieden große Löcher in die Karte gebohrt, und als er nun seine Öllampe hochhielt, um dem Feuer eine zweite Lichtquelle entgegenzusetzen, erhoben sich auf der gegerbten Landschaft überall dort, wo die Löcher waren, glitzernde Wassertropfen, die wie Perlen aussahen. Jeder Mensch, hatte er erklärt, sei eine Art Loch, ein Punkt, durch den das Jenseits in die Welt dringe. Dann hatte er eine Wasserperle mit dem Finger berührt, die daraufhin zerlaufen war. Wenn die Menschen an den Widrigkeiten des Lebens zerbrächen; sickere das Jenseits in die Welt.
Genau das mache den Wahnsinn aus.
Damals war Cnaiür von dieser Vorführung herzlich wenig beeindruckt gewesen. Er hatte den Hexenmeister verachtet, ihn für eine jener Elendsfiguren gehalten, die ständig unter selbst geschaffenen Belastungen stöhnen, und alles, was von ihm kam, abgetan. Nun dagegen erschien ihm die Überzeugungskraft des damals Gezeigten unbestreitbar. Etwas anderes lebte in ihm.
Es war sonderbar. Manchmal schien jedes seiner Augen einem anderen Herrn zu gehorchen und jeder seiner Blicke Krieg und Verlust zu enthalten. Manchmal schien er zwei Gesichter zu haben: eine ehrliche Miene, die alle Welt zu sehen bekam, und ein verschlageneres inneres Antlitz, das er – wenn er sich konzentrierte – unter der Muskulatur spüren konnte, die seine Miene spannte. Doch dieses innere Antlitz war so schwer zu fassen wie der aufkeimende Hass im Blick eines Bruders. Es kam aus Tiefen seiner selbst, die so unzugänglich waren wie Knochenmark. Er konnte diesem Antlitz gegenüber keinen Beobachterstandpunkt einnehmen und ihm auch begrifflich nicht beikommen.
Die Wasserperle war zweifelsfrei zerlaufen. Dem Hexenmeister zufolge kam es beim Wahnsinn allein auf den Ursprung an. Sollte das Göttliche von ihm Besitz ergriffen haben, wäre er ein Visionär oder Prophet. Sollte sich seiner dagegen das Dämonische bemächtigt haben…
Die Vorführung des Hexenmeisters schien unwiderlegbar zu sein, stimmte mit Cnaiürs quälenden Ahnungen überein und erklärte beispielsweise die seltsame Verwandtschaft zwischen Wahnsinn und Einsicht, die sich etwa darin zeigte, dass die Wahrsager eines Zeitalters die Irren eines anderen sein konnten. Das Problem war natürlich der Dûnyain.
Er stand zu all dem im Widerspruch.
Cnaiür hatte beobachtet, wie Kellhus sich der Wurzeln eines jeden angenommen und so über das Wachstum aller geboten hatte: Er hatte ihren Hass genährt, ihre Scham und ihren Dünkel gepflegt, ihre Zuneigung verstärkt, ihre Motive vereinheitlicht, ihre Überzeugungen ausgebildet – und das nur mit gewöhnlichen Worten und Ausdrücken. Mit ganz alltäglichen Dingen.
Cnaiür begriff, dass der Dûnyain sich verhielt, als gäbe es keine Löcher in der Landkarte des Hexenmeisters, keine Tropfen, die Seelen bedeuteten, und kein Wasser, das für das Jenseits stand. Er ging von einer Welt aus, in der das Wachstum eines Menschen zu den Wurzeln eines anderen werden konnte. Und mit dieser grundsätzlichen Annahme hatte er Tausende unterworfen.
Er hatte den Heiligen Krieg erobert.
Diese Einsicht ließ Cnaiür schwindlig werden, denn plötzlich schien er durch zwei verschiedene Welten zu reiten: durch eine offene Welt, in der die menschlichen Wurzeln in etwas gründeten, das über sie
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