Der tausendfältige Gedanke
Gesicht trafen sich Nachdenklichkeit und Mondlicht. »Ja… wie der, den du jagst.«
Was hatte es mit diesen oberflächlichen Wesen nur auf sich?
»Du nennst dich meine Geliebte? Du hältst dich für meinen Beweis und meine Beute?«
Sie blinzelte ängstlich und traurig. »Ja…«
»Aber du bist ein Messer! Du bist ein Speer und ein Hammer! Du bist Nepenthe – Opium! Du würdest mein Herz zum Heft machen und mich wie einen Degen führen!«
»Und ich?«, fragte eine männliche Stimme. »Was ist mit mir?«
Einer ihrer Brüder hatte sich neben ihn gesetzt – und doch war es keiner ihrer Brüder. Er war es… die Schlange, die sich immer fester um sein Herz wand: der Mörder Moënghus in einer Rüstung mit den Insignien eines Infanteriehauptmanns der Nansur.
Oder war es Kellhus?
»Du… «
Der Dunyain nickte, und die Luft begann feucht und streng zu riechen wie in einem Zelt der Utemot. »Wer bin ich?«
»Ich…«
Was für ein Irrsinn war das? Welche Niedertracht?
»Sag es mir«, verlangte Moënghus.
Wie lange hatte er sich in Shimeh versteckt? Wie lange hatte er sich vorbereitet? Es war egal – ganz egal! Cnaiür würde die Sonne mit seinem Hass aufbrechen, ihr das Herz herausschneiden und die ganze Welt in ewiger Dunkelheit begraben!
»Sag es mir… was siehst du?«
»Den Mann, den ich jage«, knurrte Cnaiür.
»Ja«, sagte Serwë von hinten. »Den Mörder.«
»Er hat meinen Vater mit Worten ermordet und mein Herz mit Enthüllungen zerstört!«
»Ja…«
»Er hat mich befreit.«
Cnaiür wandte sich wieder zu Serwë, und seine Sehnsucht war so groß, dass sein Brustkorb zerspringen wollte. Tiefe Risse bildeten sich auf ihrer Stirn, den Wangen, dem Kinn; knochige Finger traten dort hervor, wo eben noch ein vollkommenes Antlitz gewesen war. Mit sanftem Ruck trennten sich die Fingerspitzen. Ihre Lippen verschwanden. Sie beugte sich mit langsamer, allumfassender Leidenschaft vor. Lange, anmutige Glieder zogen sich zurück, fuhren nach außen und packten ihn am Hinterkopf. Als steckte er in einer Faust, drückte sie ihn an ihren Mund – ihren wahren Mund.
Er zog die Beine an und hob sie mit seinen vernarbten Armen mühelos empor. Wie leicht sie war… Die Morgensonne fiel auf ihre verschlungenen Leiber.
»Kommt«, sagte Moënghus. »Der Pfad wartet auf uns. Wir müssen unsere Beute zur Strecke bringen.«
In der Ferne erklangen Hörner. Hörner der Nansur.
Da sie wussten, dass Conphas kein Mittel scheuen würde, um sie zu fangen, ritten sie so weit, wie ihre Pferde es irgend hergaben, und achteten mehr auf den Kreislauf der Erschöpfung als auf den von Sonne, Mond und Sternen. Den Kreaturen zufolge hatte Conphas gleich nach der Landung eine Kolonne in den Süden von Joktha geschickt. Sein Plan nämlich setzte auf die Ahnungslosigkeit des Heiligen Kriegs, und da Saubon seinen Verrat gewiss aufdecken würde, musste Conphas alle Wege zwischen Caraskand und Xerash blockieren. Daher waren die Nansur nicht nur hinter, sondern auch vor ihnen. Am besten ritten sie daher direkt nach Süden, stahlen sich durch Enathpaneah und schlugen sich dann östlich durch die Betmulla-Berge, wo es unwahrscheinlich war, abgefangen zu werden, und die Verfolgung schwierig war.
Ab und zu redete Cnaiür mit den Geschöpfen und erfuhr dabei mancherlei über ihre Eigenarten. Sie nannten sich die Letzten Kinder der Inchoroi, sprachen aber nur ungern über ihre Altväter. Sie behaupteten, Hüter des Umgekehrten Feuers zu sein, doch jede Frage nach dieser Aufgabe oder dem Feuer selbst stürzte sie in Verwirrung. Sie klagten nie und sagten nur bisweilen, sie sehnten sich nach unaussprechlicher Vereinigung, oder versicherten einander, sie fielen tiefer und tiefer. Sie erklärten, er könne ihnen trauen, weil ihr Altvater sie zu seinen Sklaven bestimmt habe und sie Hunde seien, die eher hungern würden als Fleisch aus der Hand eines Fremden zu fressen.
Sie trugen, wie Cnaiür erkannte, den Funken der Leere in sich – genau wie die Sranc.
Als Kind war Cnaiür von Bäumen fasziniert gewesen. Da sie in der Steppe selten waren, hatte er sie nur im Winter gesehen, wenn die Utemot ihr Lager nach Swarut verlegten, in das Hochland also, das ans Meer von Jorua grenzte. Manchmal hatte er die kahlen Bäume angestarrt, bis sie ihre Räumlichkeit verloren und zweidimensional erschienen.
Cnaiür erkannte, dass Menschen Bäumen glichen, die vielfältige Wurzeln schlugen und sich in tausend verschiedene Richtungen verzweigten, um sich in die
Weitere Kostenlose Bücher