Der tausendfältige Gedanke
große Krone einer Gemeinschaft oder Gesellschaft einzufügen. Diese Wesen, diese Hautkundschafter dagegen waren etwas ganz anderes, obwohl sie die Menschen gut nachahmen konnten. Sie verbanden sich nicht mit ihrer Umwelt, wie der Mensch es tat. Sie zerstörten die Umstände, statt sich ihrer zu ihrem Vorteil zu bedienen. Sie waren im Dickicht des menschlichen Handelns verborgene Speere. Dorne waren sie.
Stoßzähne.
Das gab ihnen eine seltsame Schönheit, eine furchtbare Eleganz. Diese Hautkundschafter waren so schlicht wie ein Messer. Er beneidete sie darum, obwohl er doch – anders als sie – Liebe und Mitleid empfinden konnte.
»Vor zweihundert Jahren war ich ein Scylvendi«, sagte seine Begleiterin einmal. »Ich kenne deine Sitten und Gebräuche.«
»Wer warst du sonst noch?«
»Ich bin viele gewesen.«
»Und wer bist du jetzt?«
»Jetzt bin ich Serwë… deine Geliebte.«
Wie entschlossen Conphas sie verfolgte, zeigte sich in der dritten Nacht ihrer Flucht. An der Grenze nach Enathpaneah überquerten sie einige Hügellinien, die wie Dünen aufeinanderfolgten und deren Kämme scharf und gewunden, deren Hänge aber steil und rutschig waren. Das Grün ringsum wirkte nicht üppig, sondern zäh. Karpfengras wucherte auf den Lichtungen und hatte sich in den Spalten selbst steilster Böschungen reichlich angesiedelt. Katzenkrallendickichte bedeckten die Hänge, und Wäldchen von Johannisbrotbäumen prägten das Bild vieler Täler, doch es war zu früh im Jahr, um die Früchte zu essen. Als sie in der Abenddämmerung über den Kamm eines dieser Hügel zogen, sah Cnaiür den orangefarbenen Schein einiger Dutzend Feuer auf einem flachen Gipfel ein paar Meilen nördlich funkeln.
Die Nähe der Feuer überraschte ihn nicht; allenfalls tröstete ihn die Entfernung. Er wusste, dass die Nansur absichtlich den höchsten Punkt ausgesucht hatten, um sie zu erschrecken und sie dazu zu verleiten, ihre Pferde zu scharf zu reiten. Was ihn allerdings beunruhigte, war ihre Anzahl. Wenn sie ihnen bis hierher gefolgt waren, wussten sie, dass ihr Trupp nicht nach Caraskand geflohen war, um Schutz bei Saubon zu suchen. Also war ihnen klar, dass Cnaiür irgendwann nach Osten ausscheren wollte. Der Befehlshaber der Verfolger hatte vermutlich schon Truppen nach Südosten entsandt, um ihnen den Weg abzuschneiden. Das glich zwar Pfeilschüssen im Dunkeln, aber der Köcher schien prall gefüllt.
Am folgenden Tag begegneten sie einem Ziegenhirten aus Enathpaneah. Der alte Narr überraschte sie, und Serwë tötete ihn, ehe Cnaiür auch nur ein Wort herausbringen konnte. Der Boden war zu felsig, um ihn richtig zu begraben, und sie waren gezwungen, den Leichnam an eins der Ersatzpferde zu binden, was das Tier zusätzlich ermüdete. Die Geier aber, die wie stets über der Grenze von Welt und Jenseits schwebten, fanden sie trotzdem und nahmen die Verfolgung auf. Nun, da Geier über ihnen kreisten, hätten sie genauso gut ein Banner tragen können, das bis zu den Wolken reichte. In dieser Nacht rasteten sie in einem der Täler und verbrannten den Leichnam, obwohl der Himmel klar und mondhell war.
Eine Woche lang zogen sie durch das zerklüftete Enathpaneah und gingen allem aus dem Weg, was auf Menschen hindeutete. Nur ein ärmliches Dorf plünderten sie aus Spaß und um der Vorräte willen.
Zwei Nächte nacheinander war der Himmel bedeckt und das Dunkel fast undurchdringlich. Cnaiür erhitzte seine Klinge über einem kleinen Feuer und brachte sich an Brust und Schultern Narben bei, die all diejenigen vertraten, denen er in Joktha das Leben genommen hatte. Dabei vermied er es, Serwë und die beiden anderen Wesen anzuschauen, die leise und wachsam wie Leoparden auf der anderen Seite des Feuers saßen. Als er fertig war, herrschte er sie an, doch dann tat es ihm leid. Er erkannte, dass in ihrem Blick nichts Richtendes gewesen war, kein Funken von Menschlichkeit.
Drei Nächte sahen sie die Lagerfeuer ihrer Verfolger aus Nansur, und obwohl Cnaiür den Eindruck hatte, der Abstand zu ihnen werde immer größer, ermutigte ihn dieser Anblick nicht gerade. Es war seltsam, vor unsichtbaren Verfolgern zu fliehen. Unsichtbaren Dingen konnte man nicht all die Eigenarten und Schwächen zuschreiben, die Menschen zu bloßen Menschen machen. Diese Dinge wandern vielmehr ruhelos durch die Seele und neigen dazu, sich zu grundsätzlichen Bedenken auszuweiten, die herrisch über die irdische Welt hinausweisen.
Wenn Cnaiür die Feuer der Nansur erblickte,
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