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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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hinausging, und durch eine geschlossene Welt, in der genau diese Wurzeln keinerlei Jenseitsbezug mehr hatten. Was mochte es bedeuten, in so einer geschlossenen Welt wahnsinnig zu sein? Aber so eine Welt konnte es doch gar nicht geben! Zurückgezogen und gefühllos, kalt und ohne Seele.
    Es musste mehr geben.
    Außerdem konnte er gar nicht wahnsinnig sein, weil er keinen Ursprung hatte. Er hatte sich von allem befreit. Er besaß nicht einmal eine Vergangenheit, jedenfalls nicht im strengen Sinne, denn all sein Erinnern vollzog sich in seiner Gegenwart. Er, Cnaiür von Skiötha, war der Stifter seiner Vergangenheit. Er war das Fundament seiner selbst!
    Lachend dachte er an den Dûnyain und daran, wie diese Erkenntnis ihn im schicksalhaften Moment ihrer Wiederbegegnung zu Fall bringen würde.
    Einmal wollte er diese Überlegungen mit Serwë und den anderen teilen, doch sie konnten ihm nur einen Schein von Verständnis entgegenbringen. Wie hätten sie seine Abgründe ermessen können, da sie selbst keine besaßen? Sie waren keine bodenlosen Löcher wie er. Sie waren belebt, ohne wirklich zu leben, hatten, wie er entsetzt begriff, keine Seele und wohnten einzig im Diesseits.
    Und ohne jeden Grund schätzte er diese Geschöpfe umso höher – vor allem das Wesen namens Serwë natürlich.
    Einige weitere Tage vergingen, ehe sie die ersten richtigen Gipfel der Betmulla-Berge sichteten, doch Cnaiür vermutete, dass sie Enathpaneah schon vor einiger Zeit verlassen hatten. Sie ritten auf die Berge zu, um die großen, steil ansteigenden Geröllfelder im Norden des Höhenzugs zu überqueren. Dabei kamen sie durch ein zerklüftetes Tafelland, folgten dem gewundenen Lauf eines Bachs und ritten unter Wasserbirken entlang. Als die Berge immer größer und dunkler über ihnen standen, musste Cnaiür ans Hethanta-Gebirge denken und daran, wie rau er dort mit Serwë umgesprungen war. Damals war er ein Dummkopf gewesen – ein freier Mann, der sich zum Sklaven seines Stammes machen wollte. Doch er hatte keine Worte, um Serwë dies jetzt noch verständlich zu machen.
    »Unser Kind«, rief er schließlich ohne Überzeugung, »wurde in Bergen wie diesen gezeugt.«
    Als sie schwieg, verwünschte er sich und die Empfindlichkeiten der Frauen.
    Am späten Nachmittag lahmte ein Pferd, als sie einen Hang aus Erde und Schiefer hinabritten. Anstatt es zu töten, ließen sie es zurück, damit die Geier ihren Weg nicht verrieten. Mit den übrigen Pferden am Halfter gingen sie bis tief in die Nacht weiter und nutzten dabei die übernatürliche Sehkraft der Hautkundschafter. Falls kein Unglück geschah, konnten die Feuer hinter ihnen zwar beunruhigend lodern, sie aber nicht einholen.
    Am nächsten Morgen türmten sich die steil ansteigenden Hänge der Betmulla-Berge im Südwesten. Sie kamen an einen toten See voller blutroter Algen. Auf einem Vorgebirge, das ein nahes Eichenwäldchen überragte, stießen sie auf die Ruinen eines Heiligtums. Gesichtslose Gestalten ragten aus dem dichten Teppich aus gefallenem Laub. Ein artesischer Brunnen tröpfelte vom Altar, und sie füllten ihre Schläuche. Rotwild graste auf den Hängen um den See, und Cnaiür beobachtete amüsiert, wie Serwë und ihre Brüder ein Jungtier zu Fuß zur Strecke brachten. Später, als er sein Geschäft verrichten wollte, stieß er auf eine Reihe von Dickblattgewächsen. Die Knollen waren zwar längst noch nicht reif, schmeckten zum Wild aber köstlich.
    So klein ihr Feuer auch war – es erwies sich als Fehler. Der Wind wehte direkt von Westen über den See. Die Hautkundschafter rochen sie zuerst, aber viel zu spät.
    »Sie kommen«, sagte Serwë plötzlich und sah ihre Brüder an. Sofort verschwanden die beiden in den Bäumen. Dann hörte Cnaiür das Schnauben und Trappeln von Pferden, die sich einen erdigen Hang hinaufquälten. Auch das Klirren und Scheppern von Rüstungen drang durch den düsteren Wald.
    Im Wissen, dass Serwë ihm folgen würde, rannte Cnaiür zu den Trümmern des Heiligtums hinauf. Kaum hatte er sie erreicht, ritten die ersten Kidruhil zwischen den Eichen hervor und begannen zu johlen, als sie ihn entdeckten. Dutzende Reiter tauchten auf, und ihre Pferde, die keine Satteldecken trugen, hoben und senkten die Köpfe und verspritzten dabei schäumenden Speichel. Schon zogen die vorderen Kidruhil ihre Langschwerter…
    … da drang ein Schrei durch den Wald.
    Cnaiür sah die Reiter ihre Pferde verwirrt herumreißen. Einer stürzte, und wo sein Gesicht hätte sein

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