Der tausendfältige Gedanke
sollen, war nur ein dunkelroter Fleck… Die Kidruhil blickten nun nach oben und stießen beunruhigte Rufe aus. Dann sah Cnaiür, wie Serwës Brüder die Soldaten aus den Baumkronen attackierten und bei jedem Angriff einen ihrer Gegner töteten. Die Reiter ganz hinten gerieten bereits in Panik.
Alle, die auf ihn zugaloppiert kamen, sahen sich um, schwenkten nach rechts und wurden langsamer. Ein Offizier rief: »Raus aus den Bäumen!«, obwohl er die Männer dazu nicht hätte auffordern müssen. Reiterlose Pferde stoben in alle Richtungen.
Dann bemerkte Cnaiür die Bögen… Wie bei den Scylvendi waren sie zurückgebogen und wurden in lackierten Lederetuis verwahrt, die am Sattel befestigt waren. Mit erneutem Gebrüll ritten die Kidruhil fächerförmig den Hang hinauf und lenkten ihre Pferde dabei mit Sporen und Knien. Die ersten drei Männer spannten die Bögen und schossen, wobei sie ihre Waffen – genau wie die Scylvendi – beim Spannen hoben und senkten. Serwë sprang vor ihm herum, fing den ersten Pfeil ab, kümmerte sich nicht um den zweiten, der an ihnen vorbeipfiff, und hielt den dritten mit dem Unterarm auf.
Verblüfft trat Cnaiür zurück und duckte sich.
»Serwë!«, rief er.
Die Kidruhil nahmen das Heiligtum von beiden Seiten in die Zange. Intuitiv kroch Cnaiür in die hintere linke Ecke der Ruine und kauerte sich im Winkel nieder, was ihn zwar vor dem ersten Trupp schützte, dem Angriff der anderen Soldaten aber umso sicherer aussetzte. Schon im nächsten Moment galoppierten die linken Reiter in sein Blickfeld, feuerten ihre Pferde mit lautem »Hopp-hopp-hopp!« an und hoben die Bögen…
Da tauchte Serwë auf. Einen Moment lang stand sie vor ihm: eine selbstsichere Schönheit mit seitwärts gestreckten Armen und in der Bergsonne glänzendem, flachsfarbenem Haar.
Sie tanzte für ihn.
Als einen Tanz jedenfalls empfand er, wie sie ihn springend und um sich schlagend schützte. Dabei wandte sie ihm stets den Rücken zu, als befolgte sie ein rituelles Bescheidenheitsgebot. Ihre Ärmel fuhren mit einem Geräusch durch die Luft, das an Leder denken ließ. Pfeile klapperten auf den Boden. Andere schwirrten ihm an Kopf und Schultern vorbei. Als ein Pfeil ihre Hand durchbohrte, stürzte sie, kam aber sofort wieder auf die Beine, trat in die Luft und bekam ein weiteres Geschoss in die Wade. Gleich darauf bohrten sich noch zwei in ihren Rücken. Sie schlug ein Rad, und obwohl drei weitere Pfeile sie in Brust und Unterleib trafen, gelang es ihr doch, ein Geschoss aus seiner Flugbahn zu treten. Sie ließ die Hände kreisen, schlug vier Pfeile hintereinander weg, warf den Kopf zurück, streckte die Arme aus und bekam ein Geschoss in den rechten Handrücken, ein anderes in den linken Unterarm.
Sie riss den Kopf nach links. Eine Pfeilspitze drang ihr aus dem Genick, und sie wimmerte. Doch so sehr sie auch blutete: sie hörte nicht auf, sich zu bewegen.
Unterdessen waren die Rufe und Schreie immer lauter geworden. Ein Horn ertönte kurz und verstummte. Cnaiür aber hatte nur Augen für ihren Tanz, sah ihre bleichen, geschmeidigen Glieder, die nun durchbohrt waren, und das blutige Leinen ihres Gewands. Serwë…
Sein Preis.
Die Schreie stockten. Hufe donnerten die Hänge hinab…
Serwë hielt inne und sank auf ein Knie, als wollte sie beten. Sie reckte den Kopf und würgte leise, hob einen durchbohrten Arm und zerbrach den Birkenpfeil mit den Zähnen. Ihre Bewegungen waren bedächtig und seltsam steif Sie griff nach hinten, tastete nach der Spitze, die ihr aus dem Genick ragte, und zog den Pfeil heraus.
Dann drehte sie sich zu ihm. In ihren lächelnden Augen schimmerten Tränen. Sie wollte das Blut wegwischen, das ihr aus dem Mund drang, kratzte dabei aber nur mit dem Pfeil in ihrem Handrücken über ihren Hals. Sie sah Cnaiür ohne jedes Erstaunen an und kam ihm langsam entgegen.
»Serwë!«, rief er.
Als er sie schüttelte, zerfiel ihr vollkommenes Gesicht.
Betäubt und elend stand er da und starrte entsetzt auf die Leichen auf den Hängen. Ihre Brüder standen inmitten der toten Nansur und sahen ihn ausdruckslos an. Beiden steckten mehrere Pfeile in den Gliedern, aber sie wirkten… gleichgültig.
Mehr als ein Dutzend reiterlose Pferde strichen in der näheren Entfernung herum, doch von den Kidruhil war nichts zu sehen.
»Wir müssen eure Schwester begraben«, rief er ihnen zu.
Serwë half ihm dabei.
10. Kapitel
XERASH
Der Mensch kann die Herkunft seiner Gedanken genauso wenig
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