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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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lässt sich nicht im strengen Sinne definieren, denn alle Eigenschaften, die wir Lebenden ihm zuschreiben, gehören notwendig zur Sphäre des Lebens. Also verhält sich der Tod als Kategorie auf eine Weise, die vom Unendlichen und von Gott nicht zu unterscheiden ist.
     
    Ajencis: Dritte Analyse des Menschengeschlechts
     
     
    Man kann seine Erklärungen nicht für wahr halten, ohne anzunehmen, alle damit unvereinbaren Erklärungen seien unwahr. Da alle Menschen ihre Erklärungen für wahr halten, erweist sich diese Annahme bestenfalls als ironisch, schlimmstenfalls aber als verabscheuenswürdig, denn wer könnte angesichts der Unendlichkeit möglicher Behauptungen so eitel sein, seine kläglichen Behauptungen für wahr zu erachten?
    Die Tragik liegt natürlich darin, dass wir Erklärungen abgeben müssen. Es sieht also so aus, als müssten wir als Götter sprechen, um uns ab Menschen unterhalten zu können.
     
    Hatatian: Ermahnungen

AMOTEU, VORFRÜHLING 4112
     
    Incû-Holoinas hatten die Nichtmenschen sie genannt – die Himmelsarche.
    Nach seinem Sieg über die Inchoroi hatte Nil’giccas eine Vermessung des Schiffs angeordnet, deren Ergebnisse in der Isuphiryas festgehalten worden waren, den großen Annalen der Nichtmenschen. Es war dreitausend Ellen lang (von denen sich über zweitausend mit dem Bug voran in die Erde gebohrt hatten), fünfhundert Ellen breit und dreihundert tief…
    Es war ein Berg mit vielen Sälen und aus einem goldglänzenden Metall geschmiedet, das sich nicht beschädigen, geschweige denn zerstören ließ – eine Stadt, die im Bauch eines elenden Fisches zu liegen schien. Ein Wrack, das die Welt nicht ertragen und die Zeit nicht verdauen konnte.
    Und wie Seswatha und Nau-Cayûti entdeckten, handelte es sich dabei um eine große, vergoldete Gruft.
    Sie strichen durch ihre verlassenen Gänge, und die Planken aus verrottetem Zieselholz, die in die verkanteten Flure eingezogen waren, knarrten unter jedem ihrer Schritte. Sie kamen durch gewundene Gänge und traten in einen gähnenden Saal nach dem anderen, von denen einige breit wie riesige Schluchten waren. Wohin sie sich auch wandten, fanden sie unzählige Knochen. Von den meisten war kaum mehr als Kalk übrig, der staubend unter ihren Füßen zerbröselte. Es mochten die Knochen von Menschen oder Nichtmenschen sein, von alten Kriegern oder auch von Gefangenen, die in der völligen Dunkelheit dem Hungertod überlassen worden waren. Sie entdeckten die zusammengewachsenen Knochen der Bashrag – dick wie der Wanderstab eines Propheten – und die verstreuten Gebeine der Sranc. Andere konnten sie nicht zuordnen: seltsam geformte Knochen, von denen einige klein wie Ohrringe, andere lang wie der Mast einer Jolle waren. Sie glänzten wie geölte Bronze, und trotz seiner sagenhaft kräftigen Arme vermochte Nau-Cayûti sie nicht zu zerbrechen.
    Nie hatte Seswatha solches Grauen durchlitten. Zwar war es so diffus, dass er zunächst darüber hinweggehen konnte, doch es besaß eine tiefe Abgründigkeit, die alles, was ihm teuer war, mit einer erschreckend gegenteiligen Wahrheit konfrontierte. Intellektuell verstand er das Warum und Wofür, auch wenn seine Eingeweide bebten. Schließlich waren sie in den Tiefen von Min-Uroikas, wo die verruchten Inchoroi seit Jahrtausenden an den Grenzen zwischen der Welt und dem Jenseits genagt hatten.
    An diesem Ort hatten sich die scharfen Umrisse der Realität ins Schattenhafte aufgelöst. Das konnten sie den hohl klingenden Echos entnehmen: Durch ihre Schritte hindurch vernahmen sie stammelnde Schreie; durch ihr keuchendes Atmen drang vielfaches Stöhnen; wenn sie etwas sagten, hallte ihnen unmenschliches Gebrüll entgegen. Und sehen konnten sie es auch, denn aus den Augenwinkeln schnappten Gesichter mit vielen Kiefern aus dem Dunkel… Achamian zählte nicht mehr, wie oft Nau-Cayûti herumwirbelte, um die Erscheinungen zu erhaschen, denen er sich unmittelbar gegenüber glaubte.
    Wo der Weg nicht trügerisch war, taumelte Achamian hinter Nau-Cayûti drein und sah gedankenlos auf das wenige, was seine Blendlaterne beleuchtete: auf ausgehöhlte Steinformationen an der Decke; auf goldene Wände, die sich dem Bug der Arche entgegenkrümmten; auf winzige Schrifttafeln, die offenbar auf allen Oberflächen im Innern des Schiffs angebracht waren; sogar auf ihre Spiegelbilder, die grotesk überlängt an den Wänden ringsum erschienen und von seltsamem Schwarz umgeben waren.
    Als sie so erschöpft waren, dass ihre Füße

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