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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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über den Boden schlurften und ihre Hände zitterten, machten sie endlich Rast und hofften, etwas Schlaf zu erhaschen. Achamian hockte dösend zwischen zwei Schotten des Schiffs, knetete aber ängstlich seine Schenkel, die er fest umklammert hielt, durchlebte erneut jeden Schritt, jede gähnende Schwärze, jeden modernden Gang und fragte sich, wo sein letzter Funken Hoffnung verloschen war. Wie sollten sie diesem Ort je entkommen? Selbst wenn sie finden würden, wonach er suchte?
    Er spürte die zehrenden Höhlen, die sich labyrinthisch über und unter ihm türmten. Die Hölle selbst schien sie unhörbar zu umtosen.
    »Knochen«, stieß Nau-Cayûti zähneklappernd hervor. »Sie müssen Knochen gewesen sein!«
    Seine Stimme ließ Achamian zusammenzucken, und er betrachtete den elenden Schatten seines Begleiters. Der Prinz hockte ebenso zusammengekauert da wie er – als wäre er nackt und wollte sich vor eisigem Wind schützen.
    »Manche sagen«, flüsterte Achamian, »die ganze Arche sei aus Knochen, denn sie sei ein Skelett.«
    »Dann hätte sie einst gelebt?«
    Achamian nickte, obwohl die Angst ihn schlucken ließ. »Die Inchoroi nannten sich Kinder der Arche. In den ältesten Liedern der Nichtmenschen heißen sie die Waisen.«
    »Dann hat dieses Ding… dieser Ort sie also hervorgebracht?«
    Seswatha lächelte. »Oder gezeugt… Uns fehlen für derlei die Worte. Auch wenn wir das Leichentuch der Jahrtausende lüften könnten, würde sich das, was hier geschehen ist, wohl unserem Verständnis entziehen.«
    »Aber ich verstehe vollkommen«, sagte der junge Prinz. »Das heißt doch, Golgotterath ist ein toter Schoß.«
    Achamian sah ihn an und rang mit der Scham, die seinen Blick zu trüben drohte.
    »Vermutlich.«
    Nau-Cayûti spähte in die Finsternis. »Warum, Seswatha?«, murmelte er. »Warum sollten sie Krieg gegen uns führen?«
    »Um die Welt enden zu lassen«, war alles, was er sagen konnte.
    Um sie zu versiegeln.
    Der junge Mann fasste ihn an den Schultern. »Sie lebt!«, rief er flüsternd. Verzweiflung und Argwohn funkelten in seinen Augen. »Das hast du gesagt… Du hast es mir versprochen!«
    »Sie lebt«, log Achamian und streichelte dem jungen Mann lächelnd die Wange.
    Ich habe uns dem Untergang geweiht.
    »Komm«, sagte der Königssohn und erhob sich. »Ich fürchte die Träume, die der Schlaf uns bringt.« Ausdruckslos machte er sich wieder daran, seinen Weg durch das Dunkel zu suchen.
    Nachdem er eiskalte Luft eingeatmet hatte, stolperte Seswatha Nau-Cayûti nach, dem Thronfolger von Trysë und hellsten Licht der Anasûrimbor-Dynastie.
    Dem hellsten Licht der Menschheit.
     
     
    Kellhus griff aus…
    Ich bin gewandert, Vater, und habe die ganze Welt durchquert.
    Trotz der lackierten Möbel saß er mit gekreuzten Beinen auf dem Verandaboden und spürte, wie die stickige Zimmerluft mit der kalten Nachtluft rang. Blicklos sah er durch den dunklen Garten mit seinen planlos bepflanzten, obendrein überwucherten Terrassen. In den Blumenbeeten drängten sich Teufelsklaue und Nessel. Die Kirschbäume standen viel zu dicht, und letzte verspätete Blüten hingen braun im kühlen Tau. Aus den Rinnsteinen, in die die Sklaven den Wein gegossen hatten, stieg ein beißender Essiggestank, und es roch scharf nach verwilderten Katzen.
    Er griff aus…
    … durch Naturstein- und Ziegelwände, über karge Hänge und die Shairizor-Ebene hinweg…
    Ich habe den Kürzesten Weg genommen.
    Er sah keine Zimmerdecken, sondern schwebende Lasten, keine Wände, sondern Ängste: eine Prozession wirklicher und bloß eingebildeter Feinde. Er sah keine Villa, sondern eine lange zurückliegende Gefälligkeit des Kaisers. Wohin er auch blickte, erkannte er die tragenden Säulen zwischen den rein dekorativen Pilastern, den soliden Fels unter den abgenutzten Böden…
    Wohin er auch schaute, sah er Vergangenheit.
    Bald, Vater. Bald werde ich auf deine Schwelle treten.
    Unvermittelt wehte Jasminduft heran, und er hörte nackte Füße – ihre nackten Füße – auf dem Marmor. Das Hexenmal war deutlich, überdeutlich zu spüren, doch er drehte sich nicht zu ihr um, sondern verharrte selbst dann noch reglos, als ihr Schatten auf seinen Rücken fiel.
    »Sag mir«, bat sie ihn in fließendem und makellosem Kûniürisch, »was sind die Dunyain?«
    Kellhus dachte zurück und bediente sich der Fülle, die seine Seele war. Wahrscheinlichkeitserwägungen, die Plausibilität beanspruchen konnten oder verworfen wurden, jagten einander. Er sah,

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