Der tausendfältige Gedanke
zu blenden, sie zu zwingen und Besitz von ihnen zu ergreifen. Der große Schrei, der seine eigentliche Gestalt sei, könne aus solcher Entfernung nur in Form von Geflüster und Andeutungen vernommen werden. Ich muss Herr über diese Begegnung werden!
»Na los«, sagte es, sprang auf und folgte ihm, als er über die Veranda zurückwich, »töte mich doch. Schlag mich nieder!«
Kellhus sah eine Maske geheuchelter Furcht. Erneut löste er die Bindungen seines Selbst und entrollte die Innenflächen seiner Seele. Erneut griff er aus…
Die Vergangenheit hatte Gewicht. Während die Jungen wie Treibgut waren, das ständig in den Strom flüchtiger Ereignisse gezogen wurde, waren die Alten wie Felsen. In Sprichwörtern und Gleichnissen war von Nüchternheit und Beherrschung die Rede, doch es war vor allem Langeweile, was die Alten immun gegen den Ansturm der Ereignisse machte. Nicht Erleuchtung, sondern Wiederholung war das Geheimnis ihrer Gleichgültigkeit. Wie sollte man eine Seele bewegen, die alle Veränderungen des Weltlaufs mit angesehen hatte?
»Du kannst es nicht, stimmt’s?«, kicherte sie. »Schau dir diese hübsche Hülle an… diese Lippen, diese Augen, diesen Mund. Ich bin, was du liebst…«
Obendrein hatte der Scylvendi dieses Wesen über ihn unterrichtet, wie seine vorsätzlichen Fehlschlüsse und plötzlichen Fragen bewiesen. Dieses Geschöpf hatte – wie Cnaiür – Lust und Laune zum Prinzip seines Handelns gemacht.
Kellhus griff aus.
»Welcher Mann schlüge schon seine Frau nieder?«, sagte sie.
Er zog sein Schwert Enshoiya und drückte die Spitze zwischen ihnen auf den weißen Kachelboden. »Ein Dunyain«, erwiderte er.
Sie trat nah genug heran, um die Schwertspitze zwischen die Zehen des rechten Fußes zu klemmen. In ihren Augen funkelte uralte Wut.
»Ich bin Aurang, bin Tyrannei – ein Sohn der Leere, die ihr Himmel nennt… Ich bin Inchoroi – ich habe Tausende geschändet und würde diese Welt niederreißen. Schlag zu, Anasûrimbor!«
Kellhus griff aus…
… und sah sich mit den Augen dieses Scheusals, sah das Rätsel, das seinen Vater Moënghus töten würde. Kellhus griff aus, doch seinen Fingern fehlten die Spitzen, und seine Hände waren kalt.
Er griff aus und erkannte:
… eine Seele, die sich durch alle Epochen geschlängelt, sich Liebhaber für Liebhaber genommen, sie genussvoll erniedrigt und sich am Tod Unzähliger berauscht hatte;
… eine Gattung, die jedes Mitleid und Mitgefühl zum Schweigen gebracht hatte, um sich seinen Lüsten nur desto exzessiver zu überlassen, und die stets danach trachtete, die Welt zu ihrem schreienden Harem zu machen;
… ein Leben von solchem Alter, dass ihm nur Anasûrimbor Kellhus (und die Dunyain) neu waren.
Wer waren diese Anasûrimbor, die aus Golgotteraths Schatten kamen, die Masken der Hautkundschafter zu erkennen vermochten, steinalte Überzeugungen untergruben und sich eines Heiligen Kriegs nur mit Worten und Blicken bemächtigten? Wer trug den Namen ihres alten Feindes?
Und Kellhus begriff, dass alles auf nur eine Frage hinauslief: Wer waren die Dûnyain?
Sie fürchten uns, Vater.
»Schlag zu!«, rief Esmenet mit gereckter Brust und nach hinten gestreckten Armen.
Und er schlug zu, allerdings mit der flachen Hand. Esmenet fiel nach hinten und rollte nackt über die Kacheln.
»Der Nicht-Gott«, sagte er und kam näher, »spricht zu mir in meinen Träumen.«
Esmenet setzte sich auf, spuckte Blut und sagte: »Ich glaube dir nicht.«
Kellhus packte sie bei den schwarzen Haaren, zog sie auf die Beine und flüsterte ihr ins Ohr: »Er sagt, du hast ihn auf den Ebenen von Mengedda im Stich gelassen!«
»Lügen! Nichts als Lügen!«
»Er kommt, Kriegsherr. Wegen dieser Welt… wegen dir!«
»Schlag mich noch mal«, flüsterte sie. »Bitte…«
Er schleuderte sie zurück auf den Boden. Sie wand sich lüstern zu seinen Füßen, doch ihr Blendwerk glitt dank seines Abwehrzaubers an ihm ab. Er blieb ungerührt stehen.
»Deine Geheimnisse sind aufgedeckt, deine Kundschafter in alle Winde verstreut, deine Pläne über den Haufen geworfen«, sagte Kellhus in hohen Orgeltönen. »Du bist besiegt.«
Und zum ersten Mal antwortete sie, wie er es erwartet hatte.
»Ah… aber es gibt so viele Schlachtfelder wie Augenblicke, Dunyain.«
Auf diese Worte folgte eine Pause, in der die Möglichkeiten kreisten.
»Du bist eine Ablenkung…«, erklärte Kellhus dann.
Esmenet hatte es selbst gesagt: Sie würden alles tun, um ihm die Gnosis
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