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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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Bescheid. Oder meinst du etwa, du bist die Einzige, die mich mit wohlmeinenden Fragen bedrängt?«
    Sein leiser Humor hätte sie fast zum Weinen gebracht. Plötzlich kniete sie auf den Ruinen und drückte das Gesicht in das Moos zu seinen Füßen. Wie unsinnig ich aussehen muss, dachte sie – da knie ich auf den Resten einer eingestürzten Mauer und tue, was andere auf festem Boden tun.
    Aber es war ihr egal, denn er war der einzige Maßstab.
    Wohin sie sich auch wandten, fanden Menschen sich von etwas Größerem umgeben, dem sie gewöhnlich keine Beachtung schenkten und gegen das sie mitunter aus Stolz oder elementarem Verlangen zu Felde zogen. Doch was sie auch taten: die Dinge blieben so groß wie zuvor. Und so verrückt die Überheblichkeit der Menschen auch war: sie blieben so unbedeutend wie eh und je. Nur kniend, nur indem sie sich anboten, wie man eine Waffe anbieten mochte, konnten die Menschen ihren Platz in der Welt begreifen. Nur durch Unterwerfung konnten sie sich erkennen.
    Und Unterwerfung hatte etwas Herrliches. Die Verwundbarkeit, die es bedeutete, dass jemand über einem thronte, war so delikat, als erlaubte man einem Fremden, einen im Gesicht zu berühren. Das Gefühl inniger Zwiesprache, als könnten nur die, die ihre Bedeutungslosigkeit erkannt hatten, ihrerseits erkannt werden. Das befreiende Gefühl der Hingabe; die Entlastung, die mit dem Abgeben von Verantwortung einherging.
    Das paradoxe Gefühl von Freiheit.
    Das Geschwätz verstummte. Die Mühseligkeit des ewigen Posierens wich. Berauschend, ja erregend war sie, die Herrschaft eines anderen.
    Kellhus lachte geduldig und half ihr auf die Beine. Er beugte sich sogar nieder, um den Staub von ihrem Gewand zu klopfen. »Weißt du«, fragte er aufblickend, »dass ich dich liebe?«
    Sie lächelte, und obwohl ein Teil von ihr schwärmte wie eine Heranwachsende, beobachtete ihn etwas Älteres, Weiseres mit dem abgestumpften Blick einer Hure. »Das weiß ich«, sagte sie, »aber ich… ich…«
    »Du solltest fürchten, was bevorsteht«, sagte er. »Alle sollten das tun.«
    Sie zögerte. »Ich könnte ohne dich nicht leben.«
    Hatte sie Akka nicht das Gleiche gesagt?
    Er legte eine warme, strahlende Hand auf ihren runden Bauch, und sie hatte den Eindruck, er segne ihren Schoß. »Ich ohne dich auch nicht.«
    Er schloss sie in die Arme und raubte ihre Sorgen mit einem innigen Kuss. Obwohl er sie danach seltsam ungestüm an sich drückte, spürte sie seinen Blick wieder Richtung Shimeh wandern. Sie umschlang seine kräftige Gestalt und dachte an die Stärke seines Herzens und seiner Glieder – und an die Gabe der Prophezeiung, die alle zu töten schien, die sie auszuüben wagten.
    Lass ihn nie mehr los, sagte sie sich – nie mehr.
    Irgendwie hatte er auch das gehört. Wie immer.
    »Hab Angst um die Zukunft, Esmi, nicht um mich.« Er strich ihr durchs Haar. »Dieser Körper ist nur mein Schatten.«
    Wie weit war er gegangen?
    Kellhus dachte an schneebedeckte Berge und das Blitzen des Sonnenlichts auf vergletscherten Höhen. Er dachte an tiefe Wälder und versunkene Städte, an bemooste Statuen, die aus Ackerkrumen ragten, an unbemannte Mauern…
    Es schien, als hörte er jemanden seinen Namen durch reglosen Hochwald schreien.
    »Kellhus? Kellhuuss?«
    Wie weit war er gekommen?
    Nachdem er Esmenet ins Lager zurückgeschickt hatte, war er über unebenes Weideland nach Westen gezogen und hatte steile Hänge erklettert. Auf dem höchsten Gipfel blieb er zwischen toten Eichen stehen, wandte dem Nagel des Himmels, der nun über Shimeh und dem Meneanor-Meer stand, den Rücken zu und blickte – der Achse des Sternbilds folgend – auf die dunkle Landschaft vor ihm…
    Richtung Kyudea.
    »Ich weiß, dass du mich hörst«, sagte er in die dunkle, heilige Welt hinein. »Dass du zuhörst.«
    Ein Wind, der aus dem Nichts gekommen zu sein schien, bog das hohe Gras um, so dass es wie Strahlen nach Südwesten wies. Vor den Sternbildern klapperten und knarrten abgestorbene Äste.
    »Was hätte ich tun sollen?«, gab er zurück. »Sie kümmern sich nur um das, was sie vor Augen haben, und hören nur auf das, was ihnen gefällt. Was aber das Unsichtbare und Unhörbare anlangt – da verlassen sie sich auf dich.«
    Der Wind flaute ab und ließ eine unirdische Stille zurück. Kellhus vernahm das teigige Geräusch von Maden, die sich fünf Schritte zu seiner Rechten durch die Eingeweide einer toten Krähe wanden, und hörte Termiten unter der Rinde der Eichen

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