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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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wimmeln.
    Er roch das Meer.
    »Was hätte ich tun sollen? Ihnen die Wahrheit erzählen?«
    Er bückte sich, zog einen Zweig aus den Riemen der rechten Sandale, musterte ihn im Mondlicht und folgte den dünnen, aber kräftigen Verästelungen, die dem Himmel so viel Leere abrangen. Es war, als sprösse ein Stoßzahn aus dem anderen empor. Obwohl die Bäume ringsum vor Jahren abgestorben waren, hatte der Zweig zwei Blätter. Eines war wächsern und grün, das andere braun.
    »Nein«, sagte er. »Ich kann nicht.«
    Die Dûnyain hatten ihn als Mörder in die Welt gesandt. Sein Vater hatte ihre Abgeschiedenheit gefährdet und Ishuäl – die große Freistatt ihrer geheiligten Meditationen – bedroht. Ihnen war keine Wahl geblieben, als Kellhus zu schicken, obwohl sie wussten, dass sie damit Moënghus’ Zwecken dienten… Was hätten sie sonst tun sollen?
    Also hatte Kellhus Eärwa von den Trümmer-Einöden des Nordens bis zu den rauen Städten des Südens durchwandert. Jeden Vorteil hatte er genutzt (ob ein einzelnes Lächeln, ob tausend Fäuste), jede Verpflichtung auf ein Minimum reduziert. Er hatte gelernt, was immer die Welt ihm bot: Sprachen, Geschichte, Politik, die Eigenheiten unzähliger Herzen. Und er hatte ihre mächtigsten Waffen zu beherrschen gelernt – Glaube, Krieg und Hexenkunst.
    Er war ein Dûnyain, er gehörte zu den Initiierten. Bei jeder Biegung folgte er dem Logos, dem Kürzesten Weg.
    Und doch war er so weit gekommen.
    Er dachte daran, wie er nackt am Zirkumfix gehangen und sich langsam unter den dunklen Lauben des Umiaki gedreht hatte. Serwë war kalt gewesen wie Stein und hatte mit geschwollenem, schwarzfleckigem Gesicht an ihm vorbeigestarrt.
    Ich habe geweint.
    Kellhus warf den Zweig beiseite, beugte sich vor ins Dunkel und rannte durchs Gras auf die Betmulla-Berge zu, die schwarz am Horizont aufragten. Er sprang über Dickichte, gelangte in dunkle Schluchten und hetzte zerklüftete Hänge hinauf.
    Er rannte, ohne je zu stolpern oder sein Tempo zu verlangsamen, ohne sich zu orientieren, denn das Terrain war für ihn bereitet.
    In alle Richtungen erstreckte sich die Welt. Die Abzweigungen waren unendlich, aber nicht gleichwertig.
    Sie waren nicht gleichwertig.
    Für die wenigen Kianene und Amoti, die den Lärm mitbekamen, hörte es sich an, als würden Sklaven in der Ferne Teppiche klopfen. Doch das Geräusch bewegte sich am Sternenhimmel.
    Bei den Fußwegen des Ersten Tempels wurde es zu einem Schatten, kroch Gewölbe entlang, verdeckte kurz ihre Fresken und war verschwunden. Es trank mit den Augen, während die Träume von einer Million Jahren durch seine Seele fluteten. Es war weise und listig, ein wütendes Tier. Wie sehr dieser Ort es schmerzte mit seinen endlosen scharfen Kanten und den beengten Himmeln!
    Dornen – jeder seiner Blicke war bohrend wie ein Dorn.
    Der Stein ist schwach. Wir könnten ihn fortspülen.
    Tu nichts, gab die Stimme zurück. Schau nur zu.
    Sie wissen, dass wir hier sind. Wenn wir nicht verschwinden, werden sie uns finden.
    Dann prüfe sie.
    Der Ciphrang fiel zu Boden und kauerte sich zusammen, denn er schrak vor allem Räumlichen und jeder Oberfläche zurück. Er wartete und sehnte sich nach den schwarzen, unendlichen Tiefen. Bald kam einer von ihnen. Der Erdenwurm hatte keine Augen und sah dennoch… genau wie er selbst, aber ohne Schmerzen. Doch das Salz seiner Angst schmeckte nicht anders.
    Der Ciphrang erhob sich und offenbarte seine Gestalt. Es war Zioz, und sein Gesicht war hell wie die Sonne.
    Der Erdenwurm stieß einen erschrockenen Schrei aus und setzte dann sein eigenes Licht frei: einen Faden nackter Energie. Zioz griff neugierig nach dem Faden, zog daran und entriss dem Erdenwurm die Seele. Das Licht verschwand, und der Körper fiel leblos zu Boden.
    Sie sind schwach…
    Es gibt auch andere, sagte die Stimme. Sehr viel Stärkere.
    Vielleicht werde ich sterben.
    Dafür bist du zu mächtig.
    Vielleicht wirst du mit mir sterben, Iyokus.
     
     
    Eine lastende Abwesenheit kreiste über Achamian… Er sollte wach sein.
    Doch der Geruch hatte Seswatha in die Knie gezwungen und ließ ihn immer wieder würgen. Obwohl er nur noch brennenden Speichel herausbrachte, drehte sein Magen sich weiter um. Im Dunkel über ihm stand Nau-Cayûti und beobachtete ihn mit vor Müdigkeit ausdrucksloser Miene.
    Durch endlose Finsternis waren sie höher und höher geklettert und hatten genau gewusst, dass die Leere früher oder später dem Schrecken das Feld überlassen musste.

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