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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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Schwärze lösten, und betrachtete die bizarren Einzelheiten, die sich auf ihnen drängten. Nicht bloß Reliefs, sondern ganze Statuen waren aus den Wänden geschlagen worden: Gestalten, die ihm kaum bis zum Knie gingen und Erzählungen bevölkerten, die weiter reichten als das Licht seiner Laterne, die übereinandergestapelt waren und sich sogar über die gewölbte Decke erstreckten, sodass er durch steinernes Gitterwerk zu gehen schien. Er blieb stehen, hielt seine Laterne vor eine Reihe nackter Gestalten, die Speere gegen einen Löwen erhoben hatten, und stellte fest, dass sich hinter diesem Fries ein zweiter befand. Als er zwischen den winzigen Gliedern hindurchspähte, entdeckte er freizügige Schöpfungen, die alle erdenklichen sexuellen Stellungen abbildeten.
    Das Werk von Nichtmenschen.
    Eine Spur zog sich durch die Staubschicht am Boden – die Spur von jemandem, dessen Gangart und Schrittlänge der seinen genau glich. Kellhus folgte ihr, drang tiefer in die so stattliche wie vernachlässigte Anlage vor und war sich im Klaren darüber, dass er buchstäblich in den Spuren seines Vaters wandelte. Als er mehrere hundert Schritt abgestiegen war, gelangte er in eine gewölbte Vorhalle, deren Plastiken zwar lebensgroß ausgeführt waren, aber noch immer die zweifache Geschichte von tapferen Taten und sexuellen Ausschweifungen erzählten. Die in den Fels eingelassenen Kupfertafeln, deren Grünspan auf den Kalkstein ringsum abgefärbt hatte, trugen eine seltsame Keilschrift, doch Kellhus konnte nicht sagen, ob es sich um Segnungen, Erklärungen oder Zitate aus einem heiligen Text handelte. Er wusste nur, dass die Bewohner dieser Anlage Taten in all ihrer widersprüchlichen Komplexität gefeiert hatten, statt gefällige Oberflächen zu inszenieren, wie Menschen es zu tun pflegten.
    Kellhus ließ die übrigen Gänge außer Acht und folgte der Spur im Staub, die sich immer tiefer in das verlassene Labyrinth zog. Bis auf die korrodierten Reste bronzener Waffen fand er keine Artefakte, sondern nur ein reich verziertes Gemach nach dem anderen. Er kam durch eine riesige Bibliothek, deren Regale mit Schriftrollen sich höher türmten, als das Licht seiner Laterne reichte, und deren kunstvoll aus dem Fels gehauene Galerien und Wendeltreppen aus dem Dunkel ragten, als kämen sie aus den Tiefen des Meeres. Er blieb nicht stehen, beleuchtete mit seiner Laterne aber jeden Raum, durch den er ging oder an dem er vorbeikam: Krankenstuben, Kornspeicher, Kasernen und viele private Wohngemächer. Er dachte über alles nach, was er sah, wusste aber, dass er nichts von den Seelen derer begriff, für die diese Dinge natürlich und selbstverständlich gewesen waren.
    Er grübelte über viertausend Jahre völliger Dunkelheit nach.
    Dann querte er einen großen Durchgangstunnel, wo die in den Fels gehauenen Ereignisse – epische Szenen von Zwietracht und Leidenschaft – nur so von den Wänden strömten: Nackte Büßer lagen vor dem Hofstaat eines Königs der Nichtmenschen im Staub; Krieger ‘ kämpften gegen Massen von Sranc oder Menschen. Obwohl Moënghus’ Spur durch diese prächtigen Schaubilder führte, ging Kellhus außen herum und folgte dabei einer Stimme aus dem Nirgendwo. Gewaltige Säulen ragten ins Dunkel und zeigten ineinandergreifende Arme, die sich immer höher und rundherum schlangen, mit zurückgebogenen Handgelenken und offenen Händen, die Fingerschatten warfen. Die Decken lagen im Dunkeln. Die Stille glich der Lautlosigkeit riesiger Höhlen, wirkte also bedrohlich und zerbrechlich zugleich, als würde das Klackern eines einzelnen Steins wie ein Donnern klingen.
    Jeden seiner Schritte begleiteten erhobene Hände. Leere Augen betrachteten ihn von allen Seiten. Die Nichtmenschen, die diesen Ort erschaffen hatten, waren von der lebendigen Gestalt nicht bloß fasziniert, sondern besessen gewesen. Überall hatten sie ihr Ebenbild in den toten Fels gegraben und so die Lasten, die sie einengten, in Verlängerungen ihrer selbst verwandelt. Und Kellhus begriff: Diese ganze prächtige Anlage war ihr Andachtswerk, ihr Tempel gewesen. Anders als die Menschen hatten die Nichtmenschen ihre Verehrung nicht aufgeteilt, hatten nicht zwischen Gebet und Rede, Götzenbild und Statue unterschieden.
    Was von ihrer Angst zeugte.
    Ohne einen Gedanken an andere Optionen folgte Anasûrimbor Kellhus der Spur seines Vaters in die Dunkelheit und hielt seine Lampe dabei zu den Schöpfungen lang verstorbener, nicht menschlicher Hände empor.
    Wohin

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