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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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bringst du mich?
    Nirgendwohin… An keinen guten Ort jedenfalls.
    Schweigend führte er sie durchs Lager, weg von Shimeh, den grünenden Höhen im Westen entgegen. Auch sie schwieg und beobachtete nur, wie das Gras die Spitzen ihrer weißen Seidenpantoffeln färbte. Sie machte sich sogar einen Spaß daraus, absichtlich ins Dickicht der Halme und Stängel am Wegrand zu treten. Einmal hielt sie sich gar ein wenig rechts, um neben dem Pfad zu gehen, und einen Moment lang schienen sie fast wieder Achamian und Esmenet zu sein – nicht gepriesen und verehrt, sondern verdammt und verspottet: der Hexenmeister und seine schwermütige Hure. Sie wagte sogar, seine kalte Hand zu nehmen.
    Was sollte dadurch schon Schlimmes passieren?
    Bitte… geh weiter. Lass uns von hier fliehen!
    Erst als sie zwischen den letzten Zelten hindurchgingen, nahm sie Achamian wirklich wahr: seinen stur nach vorn gerichteten, von unergründlichen Gedanken verschleierten Blick; seinen kräftigen Kiefer, der unter den Zöpfen seines Barts mahlte. Sie stiegen den Hügel hinauf – dem zerstörten Mausoleum entgegen, auf dessen Mauer sie Kellhus in der Nacht zuvor entdeckt hatte.
    Bei Tageslicht wirkte der Ort ganz anders.
    »Du bist nicht bei Xins Totenfeier gewesen«, sagte er schließlich.
    Sie drückte seine Hand. »Ich hätte es nicht ertragen«, brachte sie stockend hervor. Ihre Worte wirkten furchtbar grausam – unerachtet dessen, was sie in der Todesnacht des Marschalls von Attrempus erlitten hatte.
    Er ist sein einziger Freund gewesen.
    »War das Feuer hell?«, wollte sie wissen, stellte also die traditionelle Frage.
    Er stieg ein paar Schritte höher, und seine Sandalen strichen durch gelb blühendes Bitterkraut. Bienen zogen wütende Kreise und summten im Donner, der in der Ferne rollte – dem Getöse der Schlacht. Eine Laune des Schalls ließ das Rasen eines einzelnen Kämpfers, wenn auch schwach, vernehmlich werden. Es klang heiser und metallisch.
    »Das Feuer war hell.«
    Die Ziegelruine ragte vor ihnen auf. Ihre Fundamente waren von wuchernden Gerbersträuchern und Gräsern umringt. Junge Pappeln wuchsen senkrecht aus den Trümmern empor, und ihre Zweige streiften die höchsten Mauerkanten. Esmenet staunte über Einzelheiten, die ihr im Dunkeln mit Kellhus entgangen waren: über ein Raupennest im Wind; über die in die Ostmauern eingesetzten Ovale, die einst Gesichter gewesen sein mochten.
    Was tue ich gerade?
    Einen unsinnigen Moment lang fürchtete sie um ihr Leben. Viele Männer hätten sie um ihrer Verbrechen willen umgebracht… aber Achamian? Mochte der Verlust einen Mörder in ihm zum Vorschein gebracht haben? Plötzlich war sie unerklärlicherweise wütend darüber, wie er sie aufgegeben hatte. Du hättest um mich kämpfen sollen!
    »Warum sind wir hier, Akka?«
    Ohne ihre abwegigen Gedanken auch nur zu ahnen, drehte er sich um und streckte den Arm aus, als wollte er mit hart errungenen Ländern angeben.
    »Ich wollte, dass du das siehst.«
    Sie folgte seiner Hand und blickte über das Lager, das mit seinen Zeltgassen an zerbrochene Muschelschalen erinnerte, über abgeholzte Haine, Felder und Gebäude hinweg bis nach Shimeh, das unter dichten Rauchfahnen reglos und düster unter einem ungewöhnlich dunklen Himmel lag.
    Von der Seeseite her wanden sich die Tatokar-Mauern weiß wie Zähne um das Labyrinth der Straßen und Gebäude, die die Höhen des Juterums umgaben. In der Ebene wie auf den Brustwehren blitzten Waffen. Die beiden Belagerungstürme, die unter Proyas’ Befehl standen, wurden auf die Mauern zugeschoben und waren von reihen- oder blockweise gruppierten Männern umgeben. Der nördliche Turm brannte wie ein kleiner, zu Andachtszwecken gebrauchter Lampion. Eine große Rauchsäule stieg genau dort auf, wo das Massus-Tor gestanden hatte, und senkte sich über die Stadt, deren tiefer gelegene Bereiche von den gottlosen Blitzen der Hexenmeister erhellt wurden. Zu beiden Seiten des Tors waren einige der großen Augen geborsten, und die Türme wirkten verlassen. Weiter südlich, auf der anderen Seite des zerstörten Aquädukts, hatten auch die beiden Belagerungstürme von Pfalzgraf Chinjosa die Mauer erreicht. Ainoni wimmelten in großer Zahl um die beiden Türme herum und standen Schlange, um die mit Sprossen versehenen Rückwände hinaufzuklettern.
    Und nicht weit von ihnen entfernt, zwischen vorbeiziehenden Rauchwolken deutlich zu erkennen, stand der Erste Tempel.
    Esmenet hob die Faust an die Stirn. Der Maßstab oder

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