Der tausendfältige Gedanke
die Perspektive mochte täuschen, doch alles schien so langsam vor sich zu gehen, als geschehe es unter Wasser – oder in einem Raum, der zähflüssiger war als das menschliche Wahrnehmungsvermögen.
Nichtsdestotrotz geschah es…
»Wir haben die Höhen eingenommen«, sagte sie, und aus ihrem Murmeln wurde ein Schrei. »Die Stadt ist unser!« Sie drehte sich zu Achamian um, der mit dem gleichen Schrecken und Erstaunen – der gleichen Ehrfurcht – zuzusehen schien, die Esmenets Miene hatte erstarren lassen.
»Akka – begreifst du denn nicht? Shimeh fällt. Shimeh fällt!«
Was hatte in diesen Worten nicht alles gesteckt! Weit mehr als Leidenschaft, weit mehr als die Tränen in ihren Augen: Liebe. Vergewaltigung und Offenbarung. Krankheit, Hunger und Gemetzel. Alles, was sie beide überlebt hatten. Alles, was sie allein ertragen hatte.
Doch er schüttelte den Kopf und sah dabei weiter auf Shimeh.
»Es ist alles eine Lüge.«
Hörner dröhnten durch den sinkenden Rauch.
»Was?«
Er wandte sich ihr zu. In seinem Blick stand eine schreckliche Leere. Sie erkannte sie wieder, denn diese Leere hatte in der Nacht, da er nach Caraskand zurückgekehrt war, in ihren eigenen Augen gestanden.
»Der Scylvendi ist letzte Nacht bei mir gewesen.«
Fanim-Trommeln hämmerten. Die Wolken wurden immer dunkler, weil die Cishaurim und ihr böser Wille es so wollten.
Unter den Anfeuerungsrufen ihrer Hauptmänner stürmten Reihen von Javreh die Hänge hinauf, kletterten über die Trümmer des Massus-Tors und rannten in die gewaltigen Rauchschleier, die langsam über die Stadt trieben. Die ersten Einheiten der Scharlachspitzen folgten, suchten sich vorsichtig ihren Weg und hielten ihre Hexenmeister ständig abgeschirmt.
Die Umrisse der erhalten gebliebenen Mauern tauchten aus dem Dunst auf. Als die Einheiten an ihnen vorbeikamen, schossen Geysire gleißenden Feuers auf und überspülten ihre Höhen. Immer mehr Wände stürzten ein.
Sarothenes war der erste Ordensmann der Scharlachspitzen, der seinen Fuß auf Shimehs Boden setzte, gefolgt von Ptarramas dem Älteren und von Ti, der seine Javreh trotz seines hohen Alters fortwährend der Trägheit zieh. Vor ihnen ragte ein Labyrinth aus Gängen und Gebäuden auf, das sich bis an den Fuß des Juterums erstreckte. Die von den Javreh gebildete Vorhut schwärmte zu Hunderten aus, metzelte hilflose Amoti nieder und durchkämmte die Bauten. Aus Verstecken drangen Schreie auf die Straße.
Ptarramas der Ältere starb als Erster. Ein Chorum traf ihn in die Schulter, als er seine Einheit vorwärts drängte. Er fiel aufs Pflaster und zerbarst wie eine Statue. Ti stieß Zauberformeln hervor und sandte Schwärme brennender Spatzen in die schwarzen Fenster des nächsten Wohnhauses. Explosionen ließen Blut und Trümmer auf die Straße stürzen. Dann traf Inrummi von den Trümmern der Stadtmauer her die Westfassade des Baus mit einem Blitz. Es gab einen enormen Knall. Verbrannte Ziegelwände stürzten ein. Aus einem plötzlich aufgerissenen Zimmer stolperte eine brennende Gestalt über den Rand der Etage und stürzte in die Tiefe.
Unter dem Schutz seiner Javreh und ihrer breiten Schilde erklomm Eleäzaras das zerstörte Massus-Tor und musterte von dort seine Einheiten. Er lehnte sich an eiserne Zacken, die aus den Trümmern zu seinen Füßen ragten und Überbleibsel des Fallgitters waren. Obwohl er Ptarramas nicht entdecken konnte, wusste er, dass etwas geschehen war.
Sie hatten gehofft, die Schlangenköpfe in einer Entscheidungsschlacht zu vertreiben, doch Seökti war zu gerissen. Dieser Dämon aus Shigek wollte sie offenbar ausbluten lassen und einen nach dem anderen aus dem Weg räumen.
Eleäzaras musterte das Gebäudelabyrinth vor seinen Augen, diesen Irrgarten aus Mauern und Dächern, der sich bis zu den Hängen des Juterums und zu den marmornen Bastionen des Ersten Tempels auf dessen Gipfel erstreckte. Er konnte die Chorae-Bogenschützen spüren, die in Kellern versteckt waren oder an günstigen, also tödlichen Punkten kauerten und warteten.
Überall lauerten versteckte Feinde.
Es ist zu viel … und es sind zu viele.
»Feuer reinigt! «, rief er. »Macht die Stadt dem Erdboden gleich! Verbrennt alles zu Asche!«
Die lang erwarteten Hörner übertönten das heidnische Trommeln. Yalgrota Sranchammer, der erheblich größer war als seine Waffenbrüder, hob die Axt zum Himmel und schwor Gilgaöl – dem mächtigen Kriegsgott – blutige Eide. Seine Landsleute
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