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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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Handlungen sie gestatten und verbieten. Wären die Menschen von der Gleichheit aller überzeugt, so würden sie die Adelsherrschaft stürzen. Würden sie glauben, das Geldwesen bedeute Unterdrückung, so würden sie die Kaufleute vertreiben.
    Nationen dulden nur jene Überzeugungen, die das große Geflecht ineinandergreifender Handlungen bewahren, das sie überhaupt möglich macht. Für die Menschen ist die Wahrheit – wie du erkannt hast – weitgehend unerheblich. Warum sonst würden sie alle in Täuschungen leben?
    Deine erste Entscheidung war von grundlegender Bedeutung. Du hast behauptet, ein Adliger, ein Prinz, zu sein, denn dir war klar, dass du – wenn du erst einige davon überzeugt hättest – verlangen könntest, dass alle dich wie einen Prinzen behandeln. Durch diese einfache Täuschung hast du deine Unabhängigkeit gesichert. Niemand würde dir befehlen, weil keiner glauben würde, er hätte das Recht dazu.
    Wie aber konntest du sie davon überzeugen, du hättest das Recht, ihnen zu befehlen? Eine Lüge hatte dich dem Adel gleichberechtigt werden lassen. Welche weitere Lüge konnte dich zum Herrscher selbst höchster Adliger machen?«
     
     
    Ihre Körper erinnerten sich all der Leidenschaft, die sie einst füreinander empfunden hatten. Als er die Augen schloss, war sie da, unter ihm, um ihn, keuchend, stöhnend, schreiend. Er spürte sich wie eine geballte Faust in ihr, spürte ihre Erregung, ihre feuchte Umklammerung.
    Sie griff nach seinem Kopf, zog ihn an sich und küsste ihn schluchzend.
    »Du warst tot!«
    »Ich bin deinetwegen zurückgekommen…«
    »Akka…«
    »Deinetwegen…«
    Esmi. Esmenet.
    Was für ein seltsamer Name für eine Hure.
    Nebelschleier lösten sich von dem gewaltigen unterirdischen Wasserfall und durchnässten seine Haare und sein Gewand. Tropfen, die wie Tränen aussahen, glitten ihm beim Zuhören über die Wangen.
    »Du hast erkannt, dass es für Überzeugungen – wie für Menschen – Rangordnungen gibt, dass manche mehr Einfluss haben als andere und dass der Glaube am meisten ausrichtet. Welchen besseren Beweis könnte es dafür geben als den Heiligen Krieg selbst? Du hast begriffen, dass es möglich ist, das Handeln vieler durch nur einen Zweck gegen viele angeborene Schwächen gefeit zu machen, gegen Furcht, Trägheit, Mitgefühl…
    Also hast du ihre Schriften gelesen und genau geprüft, welchen Einfluss Worte auf Menschen haben. Du hast die wichtigste Aufgabe des Inrithismus verstanden: Überzeugungen in etwas Unsichtbarem zu verankern und so die Wiederholung der vielfältigen Handlungen zu gewährleisten, die Nationen ihre Gestalt verleihen. Die Ordnung zu bezweifeln und infrage zu stellen, wie die Dinge sind, bedeutet dagegen, den Gott, der sie geschaffen hat, infrage zu stellen und zu erkennen, dass dieser Gott zur Rechtfertigung willkürlicher Machtverhältnisse dient, die den einen zum Kaiser, die anderen zu Sklaven machen. An eine gottgegebene Ordnung der Gesellschaft zu glauben heißt dagegen, dass Fragen nicht allein zu einer Gefahr, ja zu Ketzerei werden, sondern dass sie auch sinnlos sind, da die Antworten nicht in dieser Welt liegen. Die Diener erheben die Faust drohend zum Himmel, nicht gegen ihren Herrn.«
    Die Stimme seines Vaters, die der seinen so ähnelte, wurde so volltönend, dass sie die riesige Höhle der Nichtmenschen auszufüllen schien.
    »Und darin hast du den Kürzesten Weg gesehen… Du hast verstanden, dass sich der Kniff, die Unterdrückten zum Himmel blicken zu lassen und nicht auf die Hand, die die Peitsche hält, deinen eigenen Zielen dienstbar machen ließ. Um die Umstände zu beherrschen, muss man das Geschehen beherrschen. Um das Geschehen zu beherrschen, muss man den Glauben beherrschen. Und um den Glauben zu beherrschen, muss man mit der Stimme des Himmels sprechen.
    Denn du bist ein Dunyain, ein Initiierter – und sie mit ihrem unterentwickelten Intellekt sind nichts als Kinder.«
     
     
    Gothyelks Hornisten waren die Ersten, die es sahen, und zwar von den Höhen des zerstörten Heiligtums von Azoreah aus: ein Blitzen, dem ohrenbetäubender Lärm folgte.
    Die Herren des Heiligen Kriegs hatten die Ebenen durchkämmt und sogar Spähtrupps in die Ausläufer der Betmulla-Berge entsandt, aber keine Spur von Fanayal und seiner Armee entdeckt. Da die Befehlshaber der Inrithi nicht glauben konnten, dass die Fanim Shimeh einfach aufgaben, konnte das eigentlich nur eines bedeuten.
    Die auf allen Anhöhen der Shairizor-Ebene

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