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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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zierte. Goldene Zweige schwangen und gabelten sich unter seinen schwarzen Hausschuhen.
    »Zwei Männer aus Ce Tydonn wurden letzte Nacht festgenommen, als sie Parolen der Orthodoxen an die Mauern der Indurum-Kaserne schreiben wollten.« Werjau sah Esmenet erwartungsvoll an. Die Sekretäre kritzelten einen Moment lang energisch und hielten die Federn dann reglos in der Hand.
    »Woher kommen die beiden?«, fragte sie.
    »Aus den niederen Ständen.«
    Solche Vorfälle erfüllten sie mit unwilligem Entsetzen. Dabei beschäftigte sie nicht, was geschehen war, sondern zu welchen Schlüssen sie kommen würde. Warum hielt sich dieser Rest von Trotz nur so hartnäckig?
    »Also können sie nicht lesen.«
    »Anscheinend haben sie die Zeichen von Pergamentfetzen abgemalt. Offenbar wurden sie dafür bezahlt, wissen aber nicht, von wem.«
    Von den Nansur natürlich. Noch so ein billiger Racheakt von Ikurei Conphas.
    »Gut«, gab sie zurück. »Lasst sie häuten und pfählen.«
    Wie leicht ihr diese Worte über die Lippen kamen – alptraumhaft! Ein Atemzug nur, und diese mitleiderregenden Dummköpfe starben einen qualvollen Tod. Ein Atemzug, den sie auch ganz anders hätte verwenden können: für ein lustvolles Stöhnen, ein erstauntes Luftschnappen, ein Wort der Gnade…
    Das also war Macht: die Verwandlung von Worten in Tatsachen. Sie brauchte nur zu sprechen, und die Welt wurde umgeschrieben. Früher hatte ihre Stimme nur Freier angelockt und dafür gesorgt, dass sie ruckartig atmeten und schneller fertig wurden. Früher hatte ihre Stimme allenfalls Schmerz abwenden und dann und wann ein wenig Erbarmen erschmeicheln können. Nun war ihre Stimme dieses Erbarmen und dieser Schmerz selbst.
    Solche Gedanken machten sie benommen.
    Sie beobachtete, wie die Schreiber ihr Urteil vermerkten. Rasch hatte sie gelernt, ihr Erstaunen zu verbergen. Erneut legte sie die tätowierte Linke unwillkürlich an den Bauch und umklammerte ihn, als sei er ihr Totem geworden. Mochte die Welt ringsum eine Lüge sein – das Kind in ihr dagegen…
    Einen Moment lang staunte Esmenet über die Wärme unter ihrer Hand und war überzeugt, das Göttliche glühen zu fühlen. Das Wohlleben und die Macht waren belanglos, wenn man sie mit den anderen, inneren Wandlungen verglich. Ihr Schoß – einst flüchtige Herberge unzähliger Männer – war ein Tempel geworden. Ihr einst unbedeutender Intellekt entwickelte sich zu einem Leuchtfeuer. Ihr Herz, einst eine Gosse, war nun ein Altar für ihn… für den Kriegerpropheten.
    Für Kellhus.
    »Graf Gothyelk«, fuhr Werjau fort, »hat dreimal auf unseren Herrn geflucht.«
    Das tat sie mit einer Handbewegung ab. »Weiter.«
    »Bei allem Respekt, Prophetengemahlin – ich denke, diese Angelegenheit bedarf genauerer Untersuchung.«
    »Sagt mir«, entgegnete Esmenet gereizt, »wen Gothyelk nicht verflucht. Sollte er aufhören, auf unseren Herrn und Meister zu fluchen, werde ich mir ernsthaft Sorgen machen.« Kellhus hatte sie gewarnt, Werjau lehne sie nicht nur ab, weil sie eine Frau sei, sondern auch wegen seines eingefleischten Stolzes. Aber da Esmenet und Werjau um diese Schwäche wussten und sie hinnahmen, glichen sie eher angriffslustigen, aber bußfertigen Geschwistern als Gegenspielern, zu denen sie sonst sicher geworden wären. Es war seltsam, mit anderen zusammenzuarbeiten und dabei zu wissen, dass kein Geheimnis sicher war und selbst Belanglosigkeiten nicht verheimlicht werden konnten. Das ließ den Kontakt beider mit der Außenwelt vergleichsweise ordinär, ja tragisch erscheinen. Untereinander hatten sie nie Angst vor dem, was andere dachten, denn Kellhus sorgte dafür, dass sie stets darüber Bescheid wussten.
    Sie schenkte Werjau ein entschuldigendes Lächeln. »Fahrt bitte fort.«
    Er nickte mit ratloser Miene. »Es hat einen weiteren Mord bei den Ainoni gegeben. Ein gewisser Aspa Memkumri wurde umgebracht, ein Gefolgsmann von Lord Uranyanka.«
    »Stecken die Scharlachspitzen dahinter?«
    »Unser Gewährsmann sagt, das sei der Fall.«
    »Unser Gewährsmann… Neberenes also?« Als Werjau nickte, sagte sie: »Bringt ihn mir morgen… aber unauffällig. Wir müssen genau erfahren, was sie tun. Bis dahin habe ich die Sache mit unserem Herrn und Meister besprochen.«
    Der flachsblonde Nascenti vermerkte etwas auf seiner Wachstafel und fuhr fort: »Graf Huiwarga wurde bei einem verbotenen Ritus beobachtet.«
    »Das ist unerheblich«, sagte Esmenet. »Unser Herr missgönnt den Gläubigen ihren Aberglauben nicht.

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