Der tausendfältige Gedanke
Ein starker Glauben fürchtet nicht um seine Grundsätze, Werjau. Besonders dann nicht, wenn die Gläubigen Thunyeri sind.«
Wieder fuhr sein Griffel auf und ab – wie die der Schreiber.
Werjau kam zum nächsten Punkt. Diesmal schaute er nicht auf. »Man hat den neuen Wesir des Kriegerpropheten in seinen Gemächern schreien hören«, sagte er tonlos.
Esmenet stockte der Atem. »Was hat er denn geschrien?«, fragte sie vorsichtig.
»Das weiß niemand.«
Gedanken an Achamian bedeuteten stets kleine Katastrophen.
»Darum kümmere ich mich persönlich… Verstanden?«
»Verstanden, Prophetengemahlin.«
»Gibt es sonst noch etwas?«
»Nur die Listen.«
Kellhus hatte alle Männer des Stoßzahns aufgefordert, auf Untergebene, Gleichrangige und sogar Höhergestellte zu achten und jede Ungereimtheit in Aussehen oder Wesen zu melden, also alles, was darauf schließen ließ, dass sie jüngst von einem Hautkundschafter ersetzt worden waren. Alle gemeldeten Namen wurden auf diese Listen gesetzt. Jeden Morgen wurden Dutzende, wenn nicht Hunderte Inrithi vor die allsehenden Augen des Kriegerpropheten geführt.
Von den Tausenden, die bisher aufgelistet worden waren, hatte einer die Männer getötet, die ihn abholen sollten; zwei waren vor ihrer Verhaftung verschwunden; einen hatten die Hundert Säulen mit Gewalt zum Verhör bringen müssen; bei einem anderen – einem Gefolgsmann von Pfalzgraf Chinjosa – hatten sie so getan, als hätten sie ihn übersehen, um auf diese Weise den ganzen Ring aufzudecken. Dieses Verfahren war zwar plump gewesen, doch damit Kellhus’ Fähigkeit, die Kundschafter zu erkennen, geheim blieb, war ihnen nichts anderes übrig geblieben. Von den achtunddreißig Hautkundschaftern, die der Kriegerprophet entdeckt hatte, bevor er bekannt gab, dass er die Kundschafter erkennen könne, waren weniger als ein Dutzend gefangen genommen oder getötet worden.
Sie schienen darauf warten zu müssen, dass die Kundschafter hinter neuen Gesichtern auftauchten.
»Lasst die Tempelritter die Gelisteten wie immer versammeln.«
Kaum waren die Meldungen zusammengefasst, machte Esmenet einen Rundgang auf der Westterrasse, um die Sonne zu genießen und den Bewunderern zuzuwinken, die sich dutzendfach auf den tiefer gelegenen Dächern versammelt hatten. Sie fand das öffentliche Interesse erschreckend, aber auch berauschend. Zwar hielt sie sich dieser Ehren ganz und gar nicht für würdig, überlegte aber dennoch, wie sie das unbegründete Ausharren dieser Menschen belohnen konnte. Am Vortag hatte sie einige Wachen Brot und Pfeffersuppe verteilen lassen. Nun dankte sie Momas für den Seewind und warf ihnen zwei tiefrote Schleier zu, die sich wie Aale im Wasser wanden, als sie über den in die Luft gestreckten Händen ihrer Bewunderer schwebten. Sie lachte, als sie sich um die Schleier balgten.
Dann beaufsichtigte sie mit drei Nascenti die Nachmittagsbuße. Ursprünglich hatte dieser Ritus all den Orthodoxen, die gegen den Kriegerpropheten aufbegehrt hatten, als gemeinsame Beichte und gemeinsame Freisprechung von Schuld dienen sollen, doch überraschenderweise waren immer mehr Männer des Stoßzahns wiedergekommen, manche ein-, zweimal, andere täglich. Selbst Zaudunyani der ersten Stunde kamen und erklärten, während des Elends der Belagerung unter Zweifeln, bösem Willen oder Ähnlichem gelitten zu haben. Daher war die Zahl der Versammelten so gestiegen, dass die Nascenti dazu übergegangen waren, den Bußritus vor dem Fama-Palast zu vollziehen.
Auf Anweisung der Richter machten die Teilnehmer den Oberkörper frei, knieten aufrecht in langen, unregelmäßigen Reihen nieder und wandten der untergehenden Sonne den glänzenden Rücken zu. Während die Nascenti Gebete vortrugen, arbeiteten sich die Richter durch die Reihen der Büßer und peitschten jeden dreimal mit einem Zweig des Umiaki. Bei jedem Hieb riefen sie nacheinander:
»Weil du das Heilende verletzt hast!«
»Weil du genommen hast, was nur gegeben wird!«
»Weil du das Rettende verdammt hast!«
Esmenet rang noch immer die Hände, wenn sie die dunklen Zweige auf- und niederfahren sah. Das Blut setzte ihr zu, obwohl die meisten nur Striemen davontrugen. Ihr deutlich sichtbares Rückgrat und ihre klar sich abzeichnenden Rippen wirkten so zerbrechlich. Am meisten aber beunruhigte sie die Art, in der die Büßer sie ansahen – so nämlich, als sei sie ein Markstein, der eine sonst unermessliche Entfernung bezeichnete. Wenn die Richter zuschlugen,
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