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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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lehnten sich einige Büßer den Zweigen sogar entgegen, und obwohl Huren die verzerrten Mienen der Männer gut kannten, gab es keine Frau, die sie verstand.
    Sie sah Proyas mit abgewandtem Blick in der hintersten Reihe knien. Er wirkte viel nackter als die anderen. Aus alter Abneigung funkelte sie ihn böse an, doch er schien nicht imstande, ihren Blick zu erwidern. Nachdem der Richter an ihm vorbeigegangen war, begrub er das Gesicht in den Händen und schluchzte zitternd. Bestürzt merkte Esmenet, dass sie sich fragte, ob er Kellhus oder Achamian gegenüber bereute.
    An diesem Abend nahm sie nicht an der feierlichen Aufnahme neuer Gläubiger teil, sondern zog es vor, allein in ihren Gemächern zu essen. Sie hatte erfahren, dass Kellhus noch mit dem bevorstehenden Marsch des Heiligen Kriegs durch Xerash beschäftigt war. Deshalb aß und scherzte sie mit ihren Leibsklavinnen und schlug sich bei einem Streit, bei dem es wohl um bunte Schleier ging, auf Fanashilas Seite. Soll zur Abwechslung ruhig mal Yel aufgezogen werden, dachte sie.
    Fanashila wusste sich vor Dankbarkeit kaum zu fassen.
    Hinterher sah Esmenet kurz bei Moënghus nach dem Rechten und ging dann über den Flur in ein Zimmer, das sie als ihre Privatbibliothek betrachtete…
    … in dem aber kürzlich Achamian eingezogen war.
    Der Fama-Palast war von baulicher Pracht und Extravaganz. Er war in herrlichem Marmor gehalten und bewies vom bronzenen Gitterwerk der Fensterläden bis zu den Perlmuttintarsien an den Spitzbögen das elegante Zartgefühl der Kianene. Nach außen hin bestand der Komplex aus einem strahlenförmigen Netz von Höfen, Anlagen und Galerien, die dem Auf und Ab des Geländes folgten. Kellhus und Esmenet bewohnten eine Zimmerflucht, die – wie sie sich gern sagte – ganz oben auf Caraskands höchster Erhebung lag und von der aus man in den Apfelgarten mit seinen alten Dolmen hinuntersah. Dies aber, hatte Kellhus befürchtet, setze sie unerwarteten Angriffen aus, da die Hexenkunst sich nicht um Wände und Anhöhen schere. Deshalb musste Achamian so schmerzlich nah wohnen.
    Nah genug, damit der Wind ihm ihre Schreie zutrug.
    Akka…
    Sie stand vor der vertäfelten Tür und begriff mit einem Mal, wie sehr sie jeden Gedanken an ihn vermieden hatte. In der ersten Nacht, als er sie aufgesucht hatte, war er nicht wirklich gewesen, überhaupt nicht. Ganz anders dagegen, als sie ihn im Apfelgarten gesehen hatte. Dort hatte er gefährlich gewirkt – als könnte sein bloßer Anblick alles, was seit dem Abmarsch des Heiligen Kriegs aus Shigek geschehen war, zum Verschwinden bringen.
    Wie konnte der Anblick eines alten Menschen dazu führen, die Welt mit jugendlichen Augen zu sehen?
    Was tue ich ?
    Um ihre Beherrschung fürchtend, klopfte sie mit der Linken an die Tür und betrachtete dabei die Schlangentätowierung auf ihrem Handrücken. Einen Wimpernschlag lang war sie überzeugt, nicht Achamian, sondern Sumna werde sie auf der anderen Seite begrüßen. Sie spürte beinahe, wie die Ziegel ihres Fenstersimses kalt an ihre nackten Oberschenkel drückten, und erinnerte sich mit allen Fasern ihres Leibs daran, wie es war, seine eigene Ware zu sein.
    Dann öffnete sich die Tür, und Achamians Gesicht erschien. Es war vielleicht etwas ergrauter, aber noch so kräftig und herzerwärmend, wie sie es in Erinnerung hatte. Sein strähniger Bart allerdings war deutlich grauer geworden: Die weißen Finger hatten eine Art Hand gebildet. Und seine Augen… gehörten jemandem, den sie nicht kannte.
    Beide schwiegen. Die Verlegenheit steckte ihr in der Kehle wie Eis. Er lebt…er lebt tatsächlich.
    Esmenet kämpfte gegen das Verlangen an, ihn zu berühren und sich zu… vergewissern. Sie roch den Sempis und die bitteren Schwarzweiden, die im heißen Wind von Shigek an den Flussufern standen. Sie sah Achamian sein trauriges Maultier führen und in einer Ferne verschwinden, die ihn für immer verschluckt zu haben schien. Was hat dich zu mir zurückgebracht!
    Dann fiel sein Blick auf ihren Bauch und verweilte dort einen Moment lang. Sie schaute weg und sah auf die Regale, die hinter ihm an der Wand standen. »Ich bin wegen der Dritten Analyse des Menschengeschlechts gekommen.«
    Wortlos ging Achamian zu einem Regal an der Südwand und zog einen rissigen Folianten heraus. Er versuchte zu lächeln, doch seine Augen blieben todernst. »Komm doch herein«, sagte er.
    Sie machte vier zögernde Schritte über die Schwelle. Das Zimmer hatte seinen Geruch angenommen, einen

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