Der tausendfältige Gedanke
Proyas hat dir doch vergeben.«
Diesmal bemerkte Achamian den Ton des Marschalls, verspürte aber weniger Sorge, eher Zorn darüber. Sein Freund tat wirklich nichts anderes mehr als zu trinken. »Aber ich habe Proyas nicht vergeben.«
»Und ich?«, fragte Xinemus schließlich. »Was wird aus mir?«
Achamians Kopfhaut prickelte. Betrunkene sagten stets auf seltsame Weise »ich«. Er wandte sich dem Marschall zu und versuchte sich zu vergegenwärtigen, dass dies sein Freund war… sein einziger Freund.
»Was soll schon aus dir werden?«, fragte er zurück. »Proyas braucht weiterhin deinen Rat und deine Weisheit. Du hast deinen Platz hier – ich nicht.«
»Das habe ich nicht gemeint, Akka.«
»Aber warum sollte ich…« Achamian schwieg, weil er plötzlich begriff, was sein Freund gemeint hatte: Er klagte ihn an, ihn im Stich zu lassen. Nach allem, was passiert war, wagte Xinemus noch, ihn zu tadeln! Achamian wandte sich wieder seinen kümmerlichen Habseligkeiten zu.
Als ob sein Leben nicht irrsinnig genug wäre.
»Warum begleitest du mich nicht?«, fragte er vorsichtig, erschrak aber sofort darüber, wie unaufrichtig seine Stimme klang. »Wir können… reden… mit Kellhus reden.«
»Was hätte Kellhus davon?«
»Du hättest etwas davon, Xin. Du! Du musst…«
Xinemus hatte sich geräuschlos vom Tisch erhoben und stand nun mit zerzausten Haaren neben Achamian. Nicht nur seine leeren Augenhöhlen ließen ihn grässlich wirken.
»Du redest mit ihm!«, donnerte der Marschall und packte und schüttelte ihn. Achamian umklammerte die Arme seines Freundes, doch sie waren wie aus Holz. »Ich hab dich angefleht! Erinnerst du dich? Ich hab gefleht, und du hast zugesehen, als sie mir die Augen ausgestochen haben! Die Augen, Akka! Ich hab keine Augen mehr!«
Achamian fand sich auf dem harten Boden wieder und kroch mit spuckefeuchtem Gesicht rückwärts.
Der langgliedrige Xinemus sank auf die Knie. »Ich kann nicht mehr sehen!«, flüsterte er jammernd. »Ich-hab-nicht-den-Mut-ich-hab-nicht-den-Mut…« Er zitterte noch ein wenig und wurde dann ganz still. Als er wieder etwas sagte, war seine Stimme belegt und klang unheimlich fern von dem, was ihm eben noch zugesetzt hatte. Es war die Stimme des alten Xinemus, und sie erschreckte Achamian tief. »Du musst meinetwegen mit ihm reden, Akka. Mit Kellhus…« Achamian wollte sich weder bewegen noch hoffen. Er fühlte sich wie an den Boden genagelt. »Was soll ich ihm sagen?«
Allein das erste Blinzeln im Morgenlicht, der erste wohlige Atemzug und das raue Kissen an der Wange verbanden Esmenet noch mit der Hure, die sie einmal gewesen war.
Manchmal vergaß sie das und empfand beim Erwachen, was sie früher empfunden hatte: Sorge fuhr ihr durch die Glieder, ihr Bettzeug stank, und sie hatte Schmerzen zwischen den Beinen. Einmal hatte sie gar geglaubt, das Hämmern der Kupferschmiede zu hören, die in Sumna ihre Werkstätten gleich um die Ecke gehabt hatten. Kaum aber schreckte sie hoch, glitten Laken aus Musselin von ihrer Haut, und wenn sie sich blinzelnd in ihrem dunklen Gemach umblickte, entdeckte sie kriegerische Szenen aus Heldengeschichten an den Wänden, um gleich darauf ihre Leibsklavinnen – drei junge Mädchen der Kianene – ausgestreckt am Boden liegen zu sehen, die Stirn demütig auf die Fliesen gedrückt.
Heute war es nicht anders. Esmenet erhob sich und blinzelte schlaftrunken, während die Sklavinnen schon mit dienstbaren Händen an ihr herumnestelten. Sie plapperten in ihrer seltsamen, wohltuenden Sprache und wagten ihr Gerede nur dann in gebrochenem Scheyisch zu wiederholen, wenn ihr Tonfall Esmenet eine von ihnen – meist Fanashila – neugierig mustern ließ. Sie bürsteten ihr Haar mit Knochenkämmen, rieben ihr mit flinken, kleinen Händen wieder Leben in Arme und Beine und warteten geduldig, wenn sie hinter dem Wandschirm Wasser ließ. Danach bereiteten sie im Nachbarzimmer ihr Bad vor, seiften sie ein und massierten ihr Öl in die Haut.
Wie immer ließ Esmenet ihre Dienste in stiller Verwunderung über sich ergehen. Sie lobte die drei großzügig und entzückte sie, indem sie ihre Zufriedenheit kundtat. Sie wusste, dass die Mädchen in der Sklavenkantine das Gerede hörten und ihnen klar war, dass auch Gefangene eine eigene Stufenfolge von Rängen und Vorrechten besaßen. Als Sklavinnen einer Königin waren sie den übrigen Sklavinnen gegenüber zu Königinnen eigener Art geworden. Vielleicht waren sie darüber so erstaunt wie
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