Der tausendfältige Gedanke
würde ein Scylvendi aus ihm werden. Seine Kopfhaut prickelte, denn in diesem Gedanken lag ein Zauber, ja Verhängnis.
Dieses Schreien aber bliebe nicht eins mit dem Hunger des Kindes. Der Abstand würde größer, die Wege zwischen der Seele und deren Ausdruck vielfältiger und immer unergründlicher werden. Ein einziges Bedürfnis würde in tausend Strähnen des Verlangens und der Hoffnung entflochten und zu tausend Knoten der Furcht und Scham gebunden werden. Es würde unter der erhobenen Hand des Vaters zucken und bei der sanften Berührung der Mutter seufzen. Es würde zu dem werden, was die Umstände verlangten. Inrithi oder Scylvendi…
Es spielte keine Rolle.
Plötzlich und gegen jede Wahrscheinlichkeit begriff Cnaiür, was der Dunyain sah: eine Welt voller Kleinkinder, deren Schreie zu Worten, Sprachen und Nationen geformt werden konnten. Kellhus wusste, wie groß der Abstand war, und vermochte den tausend Wegen zu folgen. Das also war sein Zauber, seine Hexenkunst: Er konnte den Abstand überbrücken, das Geschrei beantworten… und die Seelen mit ihrem Ausdruck eins werden lassen.
Wie sein Vater es vor ihm getan hatte. Moënghus.
Verblüfft betrachtete Cnaiür die strampelnde Gestalt und spürte die kleine Hand an seinem Finger ziehen. Er begriff, dass er dieses Kind zwar gezeugt hatte, dass es aber eher sein Vater war als umgekehrt. Dieser Säugling war von ihm, und doch war er, Cnaiür von Skiötha, nur eine seiner Möglichkeiten, ein in einen Chor gequälter Schreie verwandeltes Heulen.
Er erinnerte sich einer Villa im Herzen Nansurs, die so hell gebrannt hatte, dass die Nacht ringsum sich in tiefstes Schwarz verwandelte. Auf die lachenden Zurufe seiner Stammesbrüder hin war er herumgefahren und hatte einen in die Luft geworfenen Säugling mit dem Schwert aufgespießt…
Er zog den Finger weg. Moënghus beruhigte sich allmählich.
»Du gehörst nicht zu uns«, knurrte Cnaiür und hob die narbige Faust.
»Scylvendi!«, rief eine Stimme. Er drehte sich um und sah die Hure des Hexenmeisters auf der Schwelle des Nebenzimmers stehen. Einen Moment lang sahen sie einander sprachlos an.
»Das wirst du nicht tun!«, rief sie dann mit vor Wut schriller Stimme. Sie trat ins Zimmer, und Cnaiür wich unwillkürlich einen Schritt von der Wiege zurück.
»Er ist alles, was von Serwë geblieben ist«, sagte sie. Ihre Stimme war nun behutsamer und versöhnlicher. »Der einzige Beweis, dass es sie gegeben hat. Willst du ihr den auch noch nehmen?«
Den Beweis ihres Daseins.
Cnaiür sah Esmenet entsetzt an und blickte dann auf das rosige Kind, das sich in den blauen Seidenlaken wand.
»Aber sein Name!«, hörte er jemanden rufen. Die Stimme klang viel zu weiblich und zu schwach, als dass es seine hätte sein können. Oder?
Etwas stimmt nicht mit mir… Etwas stimmt nicht …
Sie runzelte die Brauen und wollte etwas sagen, doch da kamen die ersten Wächter in den grüngoldenen Übermänteln der Hundert Säulen angerannt.
»Die Waffen nieder!«, schrie sie, als sie ins Zimmer stürzten. Die Wächter drehten sich verblüfft zu ihr um. »Nieder!«, wiederholte Esmenet. Sie senkten die Schwerter und steckten sie weg, behielten die Hand aber auf dem Knauf. Einer der Wächter, ein Offizier, wollte Einwände erheben, doch Esmenet brachte ihn mit einem wütenden Blick zum Schweigen. »Der Scylvendi ist nur gekommen«, sagte sie und wandte Cnaiür das geschminkte Gesicht zu, »um dem erstgeborenen Sohn des Kriegerpropheten kniend die Ehre zu erweisen.«
Und Cnaiür merkte, dass er vor der Wiege auf die Knie ging. Seine Augen waren leer, trocken und weit aufgerissen.
Er schien nie gestanden zu haben.
Xinemus saß an Achamians ramponiertem Schreibtisch, der einer verputzten Wand gegenüberstand, deren Fresko weitgehend abgefallen war; außer einem aufgespießten Leoparden waren nur noch ein paar Augen und Glieder zu sehen. »Was tust du da?«, fragte er.
Achamian schenkte dem mahnenden Unterton in der Stimme seines Freundes keine Beachtung, sondern antwortete mit einem Blick auf seine bescheidenen Habseligkeiten, die er auf dem Bett ausgebreitet hatte: »Das hab ich dir schon gesagt, Xin… Ich packe meine Sachen, um in den Fama-Palast zu ziehen.« Esmenet hatte ihn immer damit geneckt, dass er beim Einpacken seiner Sachen, die man an den Fingern abzählen konnte, eine Bestandsaufnahme machte. »Zieh dein Gewand hoch«, hatte sie immer gesagt. »Die kleinen Dinge vergisst man am leichtesten.«
»Aber
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