Der tausendfältige Gedanke
die Welt niemanden bevorzugt. Sie steht den Wutanfällen der Menschen vollkommen gleichgültig gegenüber.
Gott schläft… So ist es immer gewesen. Nur indem wir nach dem Absoluten streben, können wir ihn vielleicht erwecken. Bedeutung und Zweck – diese Worte benennen nichts Gegebenes, sondern unsere Aufgabe.«
Kellhus stand reglos da.
»Lass jede Überzeugung fahren«, sagte Moënghus, »denn das Gefühl von Gewissheit ist ebenso wenig ein Signum der Wahrheit, wie das Gefühl von Wille ein Signum der Freiheit ist. Getäuschte sind sich stets ihrer Sache gewiss und glauben sich untrüglich frei. So zu empfinden, bedeutet schon, getäuscht zu sein.«
Kellhus betrachtete das auratische Leuchten um seine Hände und wunderte sich über diese Helligkeit, die doch kein Licht abgab und keinen Schatten warf… Das Licht der Illusion.
»Wir aber, mein Sohn, können uns keinen Irrtum leisten. Leere ist in die Welt gekommen. Vor Jahrtausenden ist sie vom Himmel gefallen. Zweimal ist sie aus den Trümmern ihres Falls auferstanden: das erste Mal in den Kriegen der Cuno-Inchoroi, das zweite Mal in der Ersten Apokalypse. Und sie steht kurz davor, sich ein drittes Mal zu erheben.«
»Ja«, murmelte Kellhus. »Er spricht auch zu mir.«
WAS BIN ICH?
»Der Nicht-Gott?«, fragte Moënghus. Er hielt einen Augenblick inne. Hätte sein Vater Augen gehabt, so hätten sie Kellhus – dessen war der Kriegerprophet sich sicher – einen Moment lang scharf in den Blick gefasst und wären dann wieder ins Weite geglitten, hätten mithin das Auf- und Abtauchen seines Bewusstseins abgebildet. »Dann bist du wirklich verrückt.«
Die Rufe kamen von überall aus dem grellen, blendenden Licht.
»Gottgleicher Kaiser!«
Seine Männer… seine ruhmreichen Soldaten waren gekommen, um ihn zu retten.
»Er ist tot! Nein, nein, nein!«
»Gütiger Sejenus, unsere Gebete wurden erhört!«
»Meuterei! Ich sollte euch – «
»Was? Glaubt Ihr, ich hänge mehr an meinem Leben als an meiner Seele?«
»Er hat recht! Wir alle wissen es. Wir haben alle gedacht – «
»Dann seid ihr alle des Verrats schuldig!«
»Ach ja? Und was ist mit diesem Verrückten? Welcher Narr würde Seelen gegen Tinte und Ruhm tauschen – «
»Genau! Eher lasse ich mich hängen, als dass ich für Fanim-Schweine kämpfe! Soll ich etwa mein Leben aufs Spiel setzen, um mir die Verdammnis zu erstreiten?«
»Recht hat er! Recht – «
»Seht!«, rief eine Stimme direkt über ihm. »Er bewegt sich!«
Für einen Moment hörte Conphas nichts mehr. Dann zogen ihn viele Hände am Harnisch. Seine Fersen schleiften durchs Gras. Er konnte nur daran denken, sein Chorum festzuhalten. Was war bloß geschehen?
Die Hände, die er vors Gesicht geschlagen hatte, und sein Chorum trieften vor Blut. Er schrie auf. Die plötzliche Gewissheit seines Endes verursachte ihm Übelkeit. Das Herz flatterte ihm wie ein Sperling in der Brust.
Ich bin tot! Ich bin erschlagen worden!
Dann erinnerte er sich, nahm sich zusammen und schlug die Hände weg, die an ihm nestelten.
Drusas Achamian.
»Tötet ihn!«, schnauzte er und erhob sich mühsam. Soldaten und Offiziere umringten ihn und glotzten erstaunt und erschrocken. Es waren Männer der Kolonne Selial. Conphas riss einem den Umhang weg, um sich Blut von Gesicht und Hals zu wischen – das Blut Cememketris, dieses nutzlosen, kläglichen Schwachkopfs!
»Tötet ihn!«
Doch nur wenige erwiderten seinen Blick. Die anderen sahen an ihm vorbei auf die Hügelkuppe. Er bemerkte die seltsamen Schatten, die um die Füße aller spielten. Das Klingen in seinen Ohren verging, und Conphas hörte das Dröhnen ihres entrückten Gesangs. Er fuhr herum und sah Kaiserliche Ordensleute am Himmel stehen und Zerstörung über das andere Ende des hügeligen Weidelands bringen. Gerade aber traf es einen der schwarz gekleideten Hexenmeister: Seine magischen Schutzwände zerbröckelten unter einem schön anzuschauenden Ansturm von Blitzen, und er stürzte lodernd zu Boden.
So würde es auch den anderen ergehen. Vier anagogische Hexenmeister waren gegen die Gnosis eben nicht genug. Conphas verwünschte sich dafür, die Kaiserlichen Ordensleute auf die Kolonnen verteilt zu haben. Da Cishaurim und Scharlachspitzen in eine Entscheidungsschlacht verwickelt waren, hatte er angenommen, dass… dass…
Das geschieht nicht … nicht mir!
»Meine Chorae«, sagte er benommen. »Wo sind meine Armbrustschützen?«
Natürlich konnte niemand diese Frage beantworten,
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