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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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sein Messer aus der Brust des Vaters, trat ein paar Schritte zurück und sah zu, wie er die Wunde – ein tränendes, kleines Loch unterm Brustkorb – mit den Fingern untersuchte.
    »Ich bin mehr«, sagte der Kriegerprophet.
     
     
    Ein breiter Streifen Boden glühte und rauchte ringsum.
    Achamian fuhr im Halbkreis herum und sah die letzten fliehenden Kidruhil, das Lager der Inrithi auf den benachbarten Hügeln und Shimeh, das rauchend unter dunklen Wolken lag. Dann blickte er wieder zum Hügelkamm, wo zwei der vier Kaiserlichen Ordensleute brannten, und begriff, dass die ganze kaiserliche Armee gerade die andere Seite des Hügels erstieg. Jeden Moment konnten ihre Banner über dem Gras und den Wildblumen auftauchen. Er rief sich seine Ausbildung als Mandati in Erinnerung…
    Knapp unterhalb der Höhe.
    Er musste dorthin rennen, wo das Nahen der Chorae-Bogenschützen zu sehen war und das Gelände am meisten Deckung bot. Etwas in ihm allerdings trauerte bereits um die Vergeblichkeit dieser Bemühungen. Er hatte nur deshalb so lange überlebt, weil er sie gänzlich überrascht hatte. Das würde nicht so weitergehen – nicht, solange Conphas noch am Leben war.
    Ich bin tot.
    Dann fiel ihm Esmenet ein. Wie hatte er sie vergessen können? Er blickte auf das zerstörte Mausoleum, und es ängstigte ihn, dass es so nah lag. Dann sah er ihr schmales, jungenhaftes Gesicht aus den Gerbersträuchern spähen, die sich um die Fundamente des Mausoleums drängten, und begriff plötzlich, dass sie alles mit angesehen hatte.
    Es beschämte ihn irgendwie.
    »Esmi, nein!«, rief er, doch es war zu spät. Sie war schon über die Grundmauern gesprungen und kam über den braun und schwarz gewordenen Boden auf ihn zugerannt.
    Er sah es erst im Augenwinkel blitzen. Dann wirkte das Mal mit schwindelerregender Heftigkeit auf ihn ein.
    Er blickte auf…
    … und schrie: »Nein!« Glas knackte unter seinen Füßen.
    Lange Flügel, schwarze Schuppen an gegossenen Gliedern, Krallen wie Krummsäbel, ein von Augen umgebener Schlund…
    Ein aus den höllischen Eingeweiden des Jenseits herbeizitierter Ciphrang – ein schwefliger Dämon.
    Eine Böe hob Esmenets Röcke und stieß sie auf die Knie. Sie blickte zum Himmel…
    … und sah einen Dämonen niedergehen.
    Iyokus…
    Proyas befand sich auf dem Dach einer alten Walkmühle, dem einzigen Bau am Westzugang des Juterums, der nicht in Flammen stand. Ringsum in der Ferne war Sonnenschein auszumachen, doch die Stadt lag in verrauchtem Halbdunkel. Wenn er zu lange zum Himmel sah, begann die Welt sich zu drehen. Also konzentrierte er sich auf die Lehmziegel unter seinen Füßen. Er kletterte die flache Schräge hinauf, stolperte und trat ein paar lockere Dachziegel los. Dann legte er sich auf den Bauch und kroch an den nach Süden gerichteten Giebel heran.
    Von dort überblickte er Shimeh.
    Im Rauch, der in Fahnen aufstieg oder in Schleiern dahinzog, schien der Himmel wie ein Straßengewirr, und es war leicht, die relative Entfernung der schwebenden Hexenmeister und ihrer kriegerischen Lichter einzuschätzen. Unten waren nur schwarze Verwüstung, schwelende Feuer und zerfurchte Fundamente zu entdecken. Die wenigen Mauern, die noch standen, schienen zerfranst wie geripptes Pergament. Verwundete schrien und winkten mit bleichen Händen, und überall lagen verkohlte Leichen.
    Der Erste Tempel stand unangetastet auf den Höhen, als sähe er mit monumentaler Gelassenheit zu.
    Dann tat es einen gewaltigen Schlag. Proyas klammerte sich so fest an die Dachziegel, dass ihm die Luft wegblieb, und blinzelte geblendet.
    Fast direkt unterhalb seines Beobachtungspostens entdeckte er zwei Ordensmänner in purpurner Robe. Der eine war alt und gebrechlich und hielt sich im Schutz abgebrochener Pfeiler auf, die zum Umgang eines zerstörten Tempels gehörten, während der andere – ein beleibter Mann mittleren Alters – auf einem Trümmergrat balancierte. Ihre magischen Schutzwände leuchteten wie Silber im Mondlicht. Sie sangen mit gleißendem Mund und ließen es blitzen und donnern. Etwa fünfzig Schritt entfernt gab es eine riesige Erschütterung, als wäre eine Stange von der Größe einer Netia-Fichte eingeschlagen. Kies und Staub regneten auf die Trümmer nieder.
    Eine Gestalt im safrangelben Umhang schwebte durch diese Wolke. Aus ihrer Stirn drangen bläuliche Weißglutfäden, schossen über den Boden dahin, rissen Pfeiler wie Hölzer weg und schlugen auf den Abwehrzauber des alten Ordensmanns der

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