Der tausendfältige Gedanke
dieselbe Richtung gingen, gab ihm das Gefühl, er gehöre dazu und habe durch ein unaussprechliches Wunder aus Schmutz, Kälte und Verachtung in die Welt zurückgefunden.
Wie lange war es her, dass sein Vater ermordet worden war?
Eine Musikantenschar schloss sich dem spontan gebildeten Zug an, und Sol und Hertata tanzten an Lagerhäusern vorbei, deren Eingangsrampen und schmale Fenster die Straße flankierten. Im Schatten des Großen Lagerhauses, das Hertata noch nie gesehen hatte, blieben sie stehen, und Sol erklärte ihm, sein teurer Freund Ikurei Xerius III. horte darin Getreide für ihn, damit er in Zeiten der Not zu essen habe. Hertata brüllte vor Lachen.
Als das Gedränge immer größer wurde, beschlossen sie zu rennen, um sich vielleicht an die Spitze des Auflaufs zu setzen. Flink wie er war, übernahm Sol die Führung, und Hertata setzte ihm lachend nach. Sie sausten an Familien vorbei und schlängelten sich durch die schmalen Gassen, die sich immer wieder in der Menge auftaten. Sol ließ sich von Hertata zweimal fast einholen, und der Junge quietschte so, dass Sol lachend zusammenschrak. Schließlich ließ er sich von Hertata packen.
Sie rangen spielerisch miteinander und beschimpften sich im Spaß. Nachdem Sol ihn mit Leichtigkeit zu Boden gedrückt hatte, half er Hertata auf die Beine. Sie waren jetzt nah am Hafen. Möwen kreischten über ihnen. Es roch nach Wasser und aufgequollenem Holz. Sie streiften umher. Plötzlich war ihnen mulmig. Ambulante Händler – alte Hafenleute zumeist – verkauften Orangenhälften, die den Gestank überdecken sollten; die Jungen fanden einige weggeworfene Schalen, verschlangen sie und genossen den bitteren Geschmack.
»Ich hab dir doch gesagt, es gibt was zu essenessen«, sagte Hertata mit vollem Mund.
Sol schloss die Augen und lächelte. Ja, Hertata hatte die Wahrheit gesprochen.
Plötzlich hallten die Versammlungshörner durch die Stadt. Das klang vertraut und bedrohlich zugleich, als ob eine belagernde Armee das Zeichen zum Angriff gab.
»Auf, auf!«, rief Hertata, nahm Sol bei der Hand und zog ihn tiefer in die drängelnde Menge. Sol runzelte die Stirn. Er kannte Händchenhalten nur von Kleinkindern und Strichern, ließ sich dann aber von Hertata durch ein Labyrinth aus Oberkörpern und Ellbogen führen und musterte den Jungen, der sich ständig umsah und ihm aufmunternde Blicke zuwarf. Woher kam nur sein plötzlicher Mut? Jeder wusste, dass Hertata ein Angsthase war, und trotzdem war er hier und rannte sehr wahrscheinlich in eine Tracht Prügel hinein. Wofür riskierte er das? Für Maithanet? Sol fand, nichts sei es wert, eine Tracht Prügel zu bekommen oder gar von einem Sklavenhändler geschnappt zu werden. Dann schon besser jemanden ranlassen.
Dennoch lag etwas in der Luft und verunsicherte Sol in einer Weise, wie ihn nichts zuvor verunsichert hatte. Etwas, das ihm das Gefühl gab, klein zu sein – aber nicht wie Waisen, Bettler oder Kinder, sondern in spirituellem Sinne klein.
Er entsann sich, wie seine Mutter in der Todesnacht seines Vaters gebetet hatte. Geweint und gebetet hatte sie. War es das, was Hertata antrieb? Entsann er sich des Betens seiner Mutter?
Sie drängelten sich zwischen Beinen und Leibern hindurch und ernteten viele Flüche und manchen Hieb, bis sie plötzlich direkt auf die gepanzerten Flanken eines Tempelritters sahen. Sol war keinem dieser Ritter je so nah gewesen und zitterte fast vor Angst. Wie rein das Weiß seines Übermantels war, wie hell die Goldstickerei leuchtete! In seinem versilberten Kettenhemd wirkte er unverwüstlich und verwurzelt wie ein Baum. Wie die meisten Jungen, die Sol kannte, fürchtete auch er Krieger und beneidete sie zugleich. Hertata dagegen wirkte vollkommen unbeeindruckt und streckte den Kopf zur Seite, als schaute er an einer Säule vorbei.
Sol nahm seinen Mut zusammen, folgte Hertatas Beispiel, beugte sich vor und sah die Straße hinauf und hinab. Hunderte Tempelritter hielten die sich versammelnde Menge in Schach. Andere ritten langsam an ihren Rändern entlang und ließen den Blick über die Menge schweifen, als rechneten sie damit, unerwünschte Verwandte zu entdecken. Sol wollte Hertata eben fragen, ob er den Tempelvorsteher irgendwo sehen könne, als der Ritter sie wortlos und behutsam wieder zwischen die übrigen Zuschauer schob.
Hertata plapperte ohne Unterbrechung über das, was seine Mutter ihm von Maithanet erzählt hatte: Wie er die Tausend Tempel gereinigt, die Heiden mit seinem
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