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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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Heiligen Krieg zerschmettert und auf einer Matte unterm Stoßzahnzahn geschlafen hatte; und dass Gott jedes seiner WorteWorte, jeden seiner BlickeBlicke und SchritteSchritte gesegnet habe. »Er braucht mich nur zu sehen, Sol! Er muss nur schauenschauen!«
    »Und dann?«
    Doch Hertata blieb ihm die Antwort schuldig.
    Sie wandten sich einem fernen Gebrüll zu, aus dem schwache »Maithanet!«-Rufe drangen, und johlten und jubelten dann auch, ohne dass Sol begriffen hätte, warum. Hertata sprang sogar in die Höhe – jedenfalls, bis die Menge sie gegen den Tempelritter drückte, der sich bei seinen heiligen Brüdern zur Linken und zur Rechten eingehakt hatte. Das wüste Geschrei wollte kein Ende nehmen, und eine Zeit lang fürchtete Sol, sein Herz könne vor Aufregung zerspringen. Der Tempelvorsteher kam! Nie war Sol dem Jenseits so nah gewesen.
    Zwar hielt das Geschrei weiter an, doch erlahmte die Hingabe allmählich. Als Sol die ganze Aufregung schon als töricht abtun wollte – denn wer bejubelte schon einen Unsichtbaren? –, sah er Sonnenlicht auf Juwelenringen blitzen.
    Die Tempelprozession.
    Sein Herz hämmerte. Die Sonne schien sich zu drehen. Obwohl er außer Atem war, schrie er und schien auf einmal unzählige Lungen, Münder und Stimmen zu haben.
    Drei prächtig gekleidete Priester querten das schmale Blickfeld der Jungen. Dann war er zu sehen – jünger, größer und bleicher als erwartet. Einen Vollbart trug er und ein einfaches Gewand, dessen strahlendes Weiß die Augen schmerzen ließ. Tausend Hände streckten sich ihm grüßend, flehend oder Berührung heischend entgegen. Hertata kreischte geradezu, um seine majestätische Aufmerksamkeit zu erregen. Maithanet aber ging bloß vorbei. Er schien sich so schnell zu bewegen, als zöge der Boden ihn voran. Sol streckte die Arme aus – nicht, um die strahlende Erscheinung vor sich zu berühren, sondern um mit den Fingern auf seinen Freund zu deuten und so auf die Seele zu zeigen, die mehr als jede andere danach dürstete, gesehen zu werden.
    Vielleicht lag es daran, dass von allen, die die Straße säumten, nur Sol auf einen anderen zeigte; vielleicht wusste Maithanet es auch irgendwie – jedenfalls blickten ihn die leuchtenden Augen an. Sie sahen.
    Es war der erste absolute Moment in seinem Leben und würde vielleicht der einzige bleiben.
    Sol sah, wie seine zeigenden Hände Maithanets Blick auf den neben ihm springenden und schreienden Hertata lenkten. Der Tempelvorsteher lächelte.
    Einen atemlosen Moment lang erwiderte er den Blick des Jungen. Dann verschluckte die Gestalt des Ritters seine geheiligte Erscheinung.
    »Jaaa!«, schrie Hertata und weinte fassungslos. »Jaja!«
    Sol ergriff seine Hand und lachte. Jubelnd drehten sie sich zu der Gestalt um, die neben sie getreten war.
    Der Mann, der da plötzlich bedrängend nah neben ihnen aufragte, schien aus dem Nichts gekommen zu sein. Sein rechteckig gestutzter Vollbart wies ihn als Ausländer aus. Er stank nach Menschen – und nach Schiffen, was noch bedrohlicher war. In der Rechten hatte er eine halbe Orange; mit der Linken hatte er Hertata am Rücken seines schmutzigen Gewands gepackt.
    »Wo sind eure Eltern?«, herrschte er sie mit raubauziger Vergnügtheit an.
    Er musste das inzwischen fragen. Wenn ein Kind, das noch Eltern hatte, verschwand, wurde zuerst bei den Sklavenhändlern gesucht. Sie wurden gehängt, wenn sie solche Kinder stahlen – genau wie diejenigen, die sich an diesen Kindern vergingen.
    »Da drübendrüben«, wimmerte Hertata und streckte zögernd einen Finger aus.
    »Und deine?«, fragte der Mann lachend, doch Sol war schon zwischen den Tempelrittern hindurchgeschlüpft und verschwand auf der anderen Seite der Prozession in der Menschenmenge.
    Er war Sol. Er war schnell.
    Hinterher kauerte er weinend zwischen gestapelten Amphoren und vergewisserte sich immer wieder, dass ihn niemand sehen konnte. Er spuckte und spuckte, aber der Geschmack von Orangenschalen wollte einfach nicht weichen. Schließlich betete er. Vor seinem inneren Auge sah er Sonnenlicht auf Juwelenringen blitzen.
    Ja. Hertata hatte die Wahrheit gesagt.
    Maithanet segelte übers Meer.
     
     
    ENATHPANEAH, VORFRÜHLING 4112
     
    Sie waren wenige – nur etwa vierzigtausend waren noch übrig –, doch in ihrer Brust schlugen die Herzen vieler.
    Unter seinen im Wind knatternden Bannern zog der Heilige Krieg aus dem mächtigen Caraskand und ließ eine fast menschenleere Stadt zurück. Saubons Entscheidung, dort zu

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