Der tausendfältige Gedanke
passierte einfach nicht – jedenfalls keinem wie ihm. Mit dem Heiligen Krieg aber hatte sein Leben eine Wendung ins Legendenhafte genommen, und der Abstand zwischen seiner und Seswathas Welt verringerte sich – zumindest hinsichtlich dessen, was er mit ansah. Aber noch immer war sein Leben unbedeutend und dürftig. »Seswatha hat die Banalität des Alltags nie erlebt«, pflegten die Mandati zu sagen. Doch was Achamian widerfuhr, konnte die Dimensionen seiner Träume annehmen – und zwar so plötzlich, wie ein Stein eine getöpferte Urne zerschlug.
Aber ausgerechnet jetzt, da er als Heiliger Tutor zur Linken des Kriegerpropheten ritt?
Irgendwie war er wie Seswatha – wenn nicht mehr. Auch er war den Banalitäten des Alltags enthoben. Und dies zu wissen, jagte ihm auf ganz banale Art Angst ein.
Seltsamerweise waren die Träume selbst erträglicher geworden. Tywanrae und Dagliash beherrschten weiter die Szenerie, obwohl er noch immer nicht ergründen konnte, warum sie diesem oder jenem Takt der Ereignisse folgten. Seine Träume waren wie Schwalben, die in ziellosen Figuren durch die Luft flogen und dabei etwas an den Himmel zeichneten, das fast – aber eben nur fast – eine Sprache war.
Noch immer erwachte er mit Schreien auf den Lippen, doch sie hatten an Wucht verloren. Zunächst hatte er das Esmenet zugeschrieben, denn er dachte, jedem Menschen sei ein gewisses Maß an Qual zugeteilt, das man – wie Wein am Boden eines Kelchs – mal so, mal anders kippen, aber nicht vermehren konnte. Allerdings hatten qualvolle Tage früher keine erholsamen Nächte nach sich gezogen. Also beschloss Achamian, es müsse an Kellhus liegen, und wie bei allen Erkenntnissen, die mit dem Kriegerpropheten zusammenhingen, erschien ihm diese Einsicht im Nachhinein schmerzlich offensichtlich. Durch Kellhus entsprach die Größe der Gegenwart nicht nur der seiner Träume, sondern sie bekam sogar ein Gegengewicht: das der Hoffnung!
Hoffnung… Was für ein seltsames Wort.
Wussten die Rathgeber, was sie geschaffen hatten? Wie weit konnte Golgotterath sehen?
Die Vogelschau verriet, wie Memgowa geschrieben hatte, mehr über die Angst der Menschen als über ihre Zukunft. Doch wie konnte Achamian widerstehen? Er schlief mit der Ersten Apokalypse – sie war eine alte, fordernde Geliebte. Wie sollte er keine Tagträume von der Zweiten Apokalypse haben, von der furchtbaren Macht, die in Anasûrimbor Kellhus schlummerte, und vom Sturz des alten Feindes seines Ordens? Diesmal würde es glorreich enden. Der Sieg würde nicht zu Lasten all dessen gehen, was wichtig war.
Min-Uroikas würde zerstört werden. Shauriatis, Mekeritrig, Aurang und Aurax – sie alle würden untergehen. Der Nicht-Gott würde nicht auferstehen. Die Rathgeber wären nur noch eine in den Schlamm getretene Erinnerung.
Bei allem rauschhaften Glanz hatten diese Gedanken etwas Erschreckendes. Die Götter waren böse. Die Priester mochten schwatzen, so viel sie wollten – sie hatten keinen Schimmer von den heimtückischen Launen der Götter. Vielleicht würden sie nur deshalb dafür sorgen, dass die Welt brannte, um die Anmaßung eines Einzelnen zu bestrafen. Achamian hatte vor langer Zeit erkannt, dass nichts gefährlicher war als Langeweile, gepaart mit Skrupellosigkeit.
Und mit seinen verschlüsselten Antworten vergrößerte Kellhus diese Befürchtungen nur. Wann immer Achamian ihn fragte, warum er weiter auf Shimeh zumarschiere, obwohl die Fanim bloß noch eine Ablenkung seien, sagte er: »Wenn ich meinem Bruder nachfolgen soll, muss ich sein Haus zurückgewinnen.«
»Aber das ist doch gar nicht der Kriegsschauplatz!«, rief Achamian einmal verzweifelt.
Kellhus lächelte nur, denn diese Auseinandersetzung war inzwischen eine Art Spiel geworden, und sagte: »Doch, denn der Krieg ist überall.«
Nie war Geheimnistuerei so strapaziös gewesen.
»Sag mir«, fragte Kellhus eines Nachts, nachdem Achamian ihn in der Gnosis unterwiesen hatte, »warum dich gerade die Zukunft so quält?«
»Wie meinst du das?«
»Deine Fragen zielen stets auf das, was geschehen wird, und nur sehr selten auf das, was ich bereits bewirkt habe.«
Achamian zuckte die Achseln. Er war so müde, dass er nur noch schlafen wollte. »Vermutlich, weil ich die Zukunft jede Nacht träume… Außerdem finde ich immerhin bei einem Propheten Gehör.«
»Das ist wirklich eine unwiderstehliche Kombination«, sagte Kellhus lachend. »Trotzdem bist du unter denen, die mir Fragen zu stellen wagen, völlig
Weitere Kostenlose Bücher