Der tausendfältige Gedanke
erwartungsgemäß die Messer aufgeblitzt. Schließlich war Politik nur der Versuch, innerhalb menschlicher Gemeinschaften Vorteile zu erlangen. Man musste nicht Ajencis sein, um das zu durchschauen. Je mächtiger die Gemeinschaft, desto größer der Vorteil – und desto brutaler wurde er angestrebt. Diesen unverrückbaren Grundsatz hatte Achamian immer wieder an den Höfen im Gebiet der Drei Meere bestätigt gefunden. Und doch traf er auf das Sakrale Gefolge nicht zu: In Gegenwart des Kriegerpropheten griff niemand zum Messer.
Bei den Nascenti beobachtete Achamian eine nie gekannte Kameradschaft und Ehrlichkeit. Von unvermeidlichen Fehltritten abgesehen, begegneten sie einander, wie man es tun sollte: freundlich, offen und verständnisvoll. Dass sie in gleichem Maße Krieger wie Gefolgsleute oder Amtsträger des neuen Propheten waren, machte die Sache für Achamian umso bemerkenswerter… und beunruhigender.
Zu Pferde scherzten oder debattierten sie gewöhnlich und schlossen immer wieder Wetten ab. Manchmal sangen sie auch nur die herrlichen Lieder, die Kellhus ihnen beigebracht hatte. Dabei strahlten ihre Augen ohne jede Schlüpfrigkeit, und ihre Stimmen klangen klar und dröhnend. Obwohl er zunächst unangenehm berührt war, stimmte Achamian bald mit ein und war über die Worte und ihre Phrasierung erstaunt und auf eine ihm hinterher stets kaum glaubhafte Weise erfreut. Wie können diese einfachen Lieder mich nur so tief rühren?, fragte er sich. Dann aber streifte sein Blick Esmenet, die zwischen ihren Dienerinnen im Sattel schaukelte, oder er sah eine Leiche im Gras liegen, und schon dachte er wieder an den Zweck ihrer Reise.
Sie waren unterwegs, um Krieg zu führen – um zu töten. Um das heilige Shimeh zu erobern.
In solchen Momenten waren ihm die Unterschiede zwischen sei nen gegenwärtigen Umständen und seiner Zeit als Proyas’ Privatlehrer überdeutlich, und das angenehme Gefühl der Erinnerung, das alles zu durchdringen schien, verhärtete sich vor Kälte und Angst. Woran erinnerte er sich nur?
Als der Heilige Krieg schon einige Tage unterwegs war und sich durch eine der endlosen Schluchten Enathpaneahs schlängelte, wurden einige langhaarige Stammesleute – Surdu, wie Achamian später erfuhr – unter dem Zeichen des Stoßzahns zu Kellhus geführt. Jahrhundertelang hätten sie den Glauben der Inrithi bewahrt und wünschten nun, wie sie sagten, denen zu huldigen, die gekommen waren, sie zu befreien. Wenn man sie ließe, würden sie die Augen des Heiligen Kriegs sein und den Männern des Stoßzahns geheime Wege durch die niedrigen Ketten der Betmulla-Berge zeigen. Achamian entging im Gedränge das meiste des Folgenden, doch er sah den Häuptling der Surdu gebeugt knien und ein zum V gebogenes Eisenschwert darbringen.
Unerklärlicherweise befahl Kellhus, die Stammesleute zu ergreifen. Sie wurden gefoltert, und man fand heraus, dass Kascamandris Sohn Fanayal sie gesandt hatte. Offenbar hatte er den Titel seines Vaters für sich reklamiert und sammelte nun alle, derer er habhaft werden konnte, bei Shimeh. Die Surdu waren tatsächlich Inrithi, aber Fanayal hatte ihre Frauen und Kinder entführt, um sie zu zwingen, den Heiligen Krieg in die Irre zu führen. Der neue Padirajah brauchte offensichtlich dringend Zeit.
Kellhus ließ die Surdu öffentlich häuten.
Das Bild des knienden Häuptlings mit dem gebogenen Schwert ließ Achamian für den Rest des Tages keine Ruhe. Erneut war er sich gewiss, etwas bemerkenswert Ähnliches schon einmal mit angesehen zu haben – aber nicht in Conriya. Es konnte nicht sein… Das Schwert, an das er sich erinnerte, war aus Bronze gewesen.
Plötzlich kam ihm die Erleuchtung: Woran er sich zu erinnern geglaubt und was alles in gespenstische Vertrautheit gehüllt hatte, hatte nichts mit seinen Jahren als Privatlehrer des Proyas am Hof von Conriya zu tun. Mehr noch: Es hatte nicht einmal mit ihm selbst zu tun! Woran er sich erinnert hatte, war das alte Kûniüri – die Zeit, die Seswatha auf dem Feldzug jenes anderen Anasûrimbor verbrachte… des Königs Celmomas.
Zu erkennen, dass vieles von dem, was er war, gar nicht zu ihm selbst gehörte, erschreckte Achamian immer wieder zutiefst. Nun erfüllte ihn die entgegengesetzte Erkenntnis mit furchtbarer Angst: dass er mehr und mehr der wurde, der er nicht war – und nicht sein durfte. Dass er Seswatha wurde.
Lange Zeit hatte das bloße Ausmaß der Träume ihm eine Art Immunität verschafft. Was er da träumte,
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