Der tausendfältige Gedanke
Atrithau also so wie er. Doch ihre Entschlossenheit war weltlicher, nicht himmlischer Natur. Conphas wusste, dass er alles von ihnen verlangen konnte – bei Männern hatte der Sack möglicher Taten keinen Boden –, dass er diese Taten aber vielleicht zu früh von ihnen verlangte. Diese Männer würden ihre Mutter für ihn umbringen…
Es war bloß eine Sache des richtigen Zeitpunkts.
Conphas lächelte als der, der ihre Nöte geteilt hatte. Dann schüttelte er den Kopf, als wollte er sagen: Hier finden wir uns also wieder.
»Ich habe euch an die Grenzen von Galeoth geführt. Und mitten in die gefürchtete Steppe der Scylvendi. Und an die Schwelle der Zerstörung von Kian. Von Kian! Wie viele Schlachten haben wir zusammen geschlagen? Lassentas. Doerna. Kiyuth. Mengedda. Anwurat. Tertae… Und wie oft haben wir gesiegt?«
Er zuckte die Achseln, als wüsste er nicht, wie er das Offensichtliche noch deutlicher machen sollte.
»Und nun seht uns an… Seht uns an! Wir sind eingesperrt. Das Land unserer Väter wurde uns gestohlen. Der Heilige Krieg ist in der Gewalt eines falschen Propheten. Inri Sejenus ist vergessen! Ihr kennt die Anforderungen des Kriegs so gut wie ich. Nun müsst ihr entscheiden, ob ihr diesen Anforderungen gewachsen seid.«
Eine weitere Böe fuhr über den Hang, strich durchs Gras, rüttelte an den Ästen und zwang ihn, im aufgewirbelten Staub zu blinzeln. »Fragt euer Herz, meine Brüder.«
Letztlich lief alles auf ihr Herz hinaus. Obwohl Conphas keine Ahnung hatte, was das Wort Herz in diesem Fall bedeutete, wusste er doch, dass man ihm wie einem gut erzogenen Hund vertrauen konnte. Er lächelte innerlich, als er begriff, dass die Sache längst entschieden war. Sie hatten sich schon festgelegt. Das Genie der meisten Menschen lag darin, die Gründe für ihr Tun erst nach ihrem Handeln zu finden. Das Herz bediente sich immer selbst – besonders dann, wenn die Überzeugungen, um die es ging, mit Opfern verbunden waren. Darum versicherten sich große Generäle stets des Beifalls ihrer Soldaten, wenn sie den Angriffsbefehl gaben. Die Hitze der Schlacht tat dann das Übrige.
Der richtige Zeitpunkt.
»Ihr seid der Löwe«, sagte Sompas.
Darauf senkten sie das Gesicht, als entblößten sie den Hals vor dem Scharfrichter, und verharrten so – das Kinn an den rot lackierten Brustharnisch gedrückt, den sie überm Kettenhemd trugen. Als Ausdruck tiefen und ehrfürchtigen Respekts ließen sie einen langen Moment verstreichen.
Vielleicht sogar als Ausdruck von Anbetung.
Als er Reiter nahen hörte, riss Conphas sein Pferd lächelnd herum. Wie sie ihre Pferde vor ihm zum Stehen brachten, hatte etwas Wildes und Zügelloses – als hätte die kleinste Laune sie ihren Angriff fortsetzen lassen. Trotz ihrer bunten Khalats und ihrer funkelnden Brustpanzer wirkten sie schattenhaft und bedrohlich. Das lag nicht allein an ihrer lederartigen, dunklen Wüstenhaut oder am öligen Glanz ihrer langgeflochtenen Spitzbärte, sondern auch an ihren so verhärmten wie wilden Blicken. In ihren Augen glomm die fieberhafte Entschlossenheit des Aufbegehrens gegen fremde Eroberer.
Einen Moment lang schwiegen alle, und nur das Schnauben der Schlachtrösser war zu hören. Conphas hätte fast gelacht, als er sich vorstellte, sein Onkel träte ihrem alten Feind so entgegen. Xerius wäre nur ein Maulwurf, der mit Falken verhandelt – er selbst aber begegnete ihnen als Löwe.
»Fanayal ab Kascamandri«, sagte er mit klarer, volltönender Stimme. »Padirajah.«
Der junge Mann, den er anredete, neigte den Kopf viel zu tief; schließlich stand Fanayal dem Rang nach nun über allen außer Xerius und Maithanet.
»Ikurei Conphas«, sagte der Padirajah von Kian in beschwingtem Tonfall. Seine dunklen Augen waren geschminkt. »Kaiser.«
Als der Regen aufhörte, ließ Cnaiür die schlummernde Serwë im Bett zurück. Ihr Gesicht war so vollkommen wie unecht.
Er trat aus seiner Unterkunft auf die Terrasse und atmete die frische Luft nach dem Unwetter ein. Joktha und seine engen Gassen lagen im gedämpften Licht des aufklarenden Himmels vor ihm. Die Stadt ähnelte einem riesigen Amphitheater mit zerschmetterten und zerfurchten Reihen. Eine Zeit lang betrachtete er Conphas’ Lager auf den fernen Hängen gegenüber und sann darüber nach wie über eine unerforschte Küste.
Plötzliches Geflatter schreckte ihn auf. Schatten huschten über die Pfützen ringsum. Die Silhouetten fliehender Sandtauben tauchten vor der Mondsichel
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