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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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auf, ehe die Tiere sich plötzlich abwärts stürzten, als seien sie mit Schnüren an die Terrasse gebunden. Mit warnenden Rufen verschwanden sie in der Tiefe.
    Eine Stimme krächzte von der Seite: »Du verblüffst mich, Scylvendi.«
    Cnaiür wusste mittlerweile, dass Dämonen vielerlei Gestalt annahmen. Sie waren überall, setzten der Welt mit ihren regellosen Gelüsten zu und forderten sie in den Gestalten, die sie annahmen – mochten es nun Vögel, Liebhaber oder Sklaven sein –, immer wieder heraus.
    Niemanden allerdings quälten sie mehr als ihn.
    »Töte den Ikurei«, sagte die Stimme durchdringend, »und die Hunde sind frei. Warum erhebst du die Hand nicht?«
    Cnaiür wandte sich dem Scheusal in Vogelgestalt zu.
    Er wusste, dass einige Völker bestimmte Vögel verehrten und andere verschmähten. Die Nansur hatten ihre heiligen Pfauen, die Leute in Cepalor ihre Präriehühner. Inrithi schlachteten Gabelweihen und Falken bei ihren Kriegsriten. Für die Scylvendi aber zeigten Vögel nur Wetterumschwünge, Wölfe und den Wechsel der Jahreszeiten an. Oder Nahrung in arger Bedrängnis.
    Worum handelte es sich also bei diesem Geschöpf? Er hatte mit ihm einen Handel geschlossen, und sie hatten sich Versprechen gegeben.
    »Du erzählst mir was vom Töten«, sagte Cnaiür gelassen, »obwohl der Tod des Dunyain deine einzige Sorge sein sollte.«
    Das kleine Gesicht verdüsterte sich. »Der Ikurei arbeitet an der Zerstörung des Heiligen Kriegs.«
    Cnaiür wandte sich zum Meneanor-Meer, dessen schwarzen Rücken das Mondlicht teilte wie ein großer Finger. »Und der Dunyain?«
    »Den brauchen wir, um den anderen zu finden… Moënghus. Er ist die größere Gefahr.«
    »Dummkopf!«, rief Cnaiür.
    »Ich überstrahle dich bei weitem, Sterblicher!«, entgegnete das Wesen mit vogelartiger Heftigkeit. »Ich bin von gewalttätigerem Schlag. Du kannst dir nicht vorstellen, welcher Ausrichtung mein Leben folgt!«
    Cnaiür sah das Geschöpf kurz von der Seite an. »Warum? Mein Blut ist nicht jünger als deins. So wenig wie meine Seelenregungen. Du bist auch nicht so alt wie die Wahrheit.«
    Er konnte das Grinsen des Wesens geradezu hören.
    »Du verstehst die Dûnyain noch immer nicht«, fuhr Cnaiür fort. »Sie bestehen vor allen Dingen aus Intellekt. Ich kenne ihre Ziele nicht, aber eins weiß ich: Sie machen alles zu ihrem Werkzeug, und zwar auf eine Weise, die sich meiner und sogar deiner Kenntnis entzieht, Dämon.«
    »Du glaubst, ich unterschätze sie?«
    Cnaiür wandte dem Meer den Rücken zu. »Das ist unvermeidlich«, sagte er achselzuckend. »Wir sind für sie kaum mehr als Kinder und Einfaltspinsel. Denk daran, Vogel. Moënghus hat dreißig Jahre lang bei den Kianene gelebt. Ich kenne deine Macht nicht, doch eins weiß ich: Du wirst ihm nicht beikommen.«
    Moënghus… Diesen Namen nur auszusprechen, zog ihm das Herz zusammen.
    »Wie du schon sagst, Scylvendi: Du kennst meine Macht nicht.«
    Cnaiür fluchte und lachte gleichzeitig. »Willst du wissen, was ein Dûnyain in deinen Worten hören würde?«
    »Was denn?«
    »Selbstinszenierung und Eitelkeit – Schwächen, die dein Format verraten und zahllose Angriffsflächen bieten. Ein Dûnyain würde deine Selbstdarstellung nicht in Zweifel ziehen. Er würde dich in deiner Zuversicht bestärken. Was ihn selbst anginge, würde er auf jeden schmeichelhaften Anschein verzichten. Es wäre ihm gleichgültig, ob du ihn als deinen Untergebenen oder deinen Sklaven betrachtest, solange du nur unwissend bleibst.«
    Einen Moment lang starrte das Scheusal, als erfasste sein apfelgroßer Schädel das Gesagte nur in Häppchen. Dann verzog sich sein Gesicht zu einer Miene, die im Miniaturformat Verachtung widerspiegelte. »Unwissend? Worüber?«
    »Über deine tatsächlichen Umstände.«
    »Und was sind meine tatsächlichen Umstände, Scylvendi?«
    »Du wirst gelenkt und flatterst in Netzen, die du selbst geschaffen hast. Die Umstände, die du unter Kontrolle bringen willst, Vogel, haben längst dich unter Kontrolle gebracht. Natürlich denkst du darüber anders. Wie bei den Menschen steht Macht unter deinen natürlichen Begierden hoch im Kurs. Aber du bist ein Werkzeug – genau wie jeder Mann des Stoßzahns.«
    Das Wesen neigte den Kopf zur Seite. »Wie kann ich denn mein eigenes Werkzeug werden?«
    Cnaiür schnaubte. »Jahrhundertelang hast du – so behauptest du jedenfalls – die Ereignisse aus dem Dunkeln manipuliert. Nun glaubst du, so weitermachen zu können, da nichts sich

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