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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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ungeschehen zu machen – alles, was seit Shigek geschehen war.
    Alle sind hier versammelt … alle, die ich liebe.
    »Mein Geruchssinn!«, beteuerte Xinemus. »Ich sage euch, mein Geruchssinn reicht weiter als mein Blick es je tat! Bis in die tiefsten Ritzen… Du, Proyas, glaubst, gestern Abend Hammel gegessen zu haben…« Er sah grimassierend ins Leere. »Dabei war es Ziege.«
    Esmenet rollte glucksend zurück in ihre Kissen und strampelte mit den kleinen Füßen. Xinemus wandte ihrem Lachen den Kopf zu, drohte ihr mit einem wissenden Finger und führte ihn dann an die Nase. »Was wir sehen, ist schön, ungemein schön«, sagte er mit spöttischer Beredsamkeit. »Wahrheit aber liegt in dem, was wir riechen.«
    Diese Feststellung ließ ihr Lachen brüchig werden, da sie von einer plötzlichen und gefährlichen Veränderung in Xinemus’ Verhalten begleitet wurde. Im nächsten Moment verstummten sie ganz.
    »Wahrheit!«, rief Xinemus wild. »Die Welt stinkt danach!« Er tat, als wollte er aufstehen, ließ sich aber wieder auf seinem Hintern nieder. »Ich rieche alles an euch«, sagte er wie als Antwort auf ihr erschrockenes Schweigen. »Ich rieche, dass Akka sich fürchtet. Ich rieche, dass Proyas sich grämt. Ich rieche, dass Esmenet…«
    »Schluss!«, bellte Achamian. »Was soll dieser Irrsinn? Xin… was bist du nur für ein Narr geworden!«
    Der Marschall lachte. Eine unwahrscheinliche Klarheit hatte ihn plötzlich ergriffen. »Ich bin der, den du gekannt hast, Akka.« Er zuckte in der übertriebenen Art von Betrunkenen die Achseln und streckte die offenen Hände aus. »Nur ohne meine Augen.«
    Achamian glotzte verständnislos. Wie war es dazu gekommen? Xin…
    »Meine Welt«, fuhr Xinemus schleppend fort und grinste in einem unheimlichen Anflug guter Laune, »ist entzweigeschnitten worden. Früher lebte ich unter Menschen. Jetzt hause ich unter Eseln.«
    Niemand lachte.
    Achamian stand auf und dankte Proyas für die Gastfreundschaft. Der Prinz von Conriya saß gebrochen da und war stumm wie ein Grab. Trotz seiner Verwirrung begriff Achamian, dass Proyas sich Xinemus als Strafe auferlegt hatte. Mit dem Umsturz der alten Erklärungszusammenhänge hatte Kellhus der Reue sehr vieler Menschen eine neue Richtung gegeben.
    Xinemus hustete, und Achamian sah Esmenet bei diesem Geräusch hochfahren. Den Marschall plagte mehr als nur eine ausgewachsene Verstimmung. Jedes Mal, wenn Achamian ihn traf, schien es ihm schlechter zu gehen.
    »Ja«, sagte Xinemus, »ergreif ruhig die Flucht, Akka.« Sein Hohngrinsen wirkte trotz seiner Blässe gesund.
    »Ich gehe mit dir zurück«, sagte Esmenet. Achamian konnte nur nicken und schlucken.
    Was ist uns widerfahren?
    »Vergiss nicht, sie zu fragen«, brummte Xinemus, als sie hinauseilten, »warum sie mit Kellhus ins Bett…«
    »Xin!«, rief Proyas mehr erschrocken als wütend.
    Mit dröhnendem Kopf und glühendem Antlitz drehte Achamian sich zu seinem früheren Schüler um, sah aber aus den Augenwinkeln, dass Esmenet Tränen in den Augen hatte. Esmi…
    »Was?«, fragte Xinemus lachend und tat, als habe er gute Laune. »Ist der Blinde etwa der einzig Sehende? Haben die bildlichen Ausdrücke aus alter Zeit solche Macht über uns?«
    »Woran auch immer du leidest«, sagte Proyas gefasst, »ich werde es bis zum Ende ertragen – das habe ich dir geschworen, Xin. Aber Gotteslästerei werde ich nicht dulden. Verstehst du?«
    »Ach ja, Proyas der Richter.« Der Marschall lehnte sich zum Trinken in die Kissen zurück und fuhr dann mit fremder, verwirrt klingender Stimme fort, als habe er jede Hoffnung aufgegeben. »Also hieß er Horomon seine Wangen in seine Hände legen«, zitierte er, »und sagte zu den anderen: ›Diesen Mann, der die Augen seines Feindes ausgestochen hat, hat Gott mit Blindheit geschlagen.‹ Dann spuckte er in beide Augenhöhlen und sagte: ›Ich habe diesen Sünder gereinigt.‹ Und Horomon schrie erstaunt auf, denn er war blind gewesen und konnte nun sehen.«
    Achamian wusste, dass Xinemus aus dem Traktat zitiert hatte, und zwar die berühmte Passage, in der Inri Sejenus einem berüchtigten Verbrecher aus Xerash das Augenlicht zurückgab. Für viele Inrithi bedeutete die Wendung »mit Horomons Augen sehen« so viel wie »eine Offenbarung erleben«.
    Xinemus wandte sich von Proyas zu Achamian wie von einem kleineren zu einem größeren Feind. »Er kann nicht heilen, Akka. Der Kriegerprophet… er kann nicht heilen.«
     
     
    Achamian hatte gehofft, die Luft

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