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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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durchbrochen und dadurch einen breiten Streifen der westlichen Stadt in ein Labyrinth verwandelt. Dann waren sie durchs Dunkel getappt und hatten ihre Positionen bezogen. Dort warteten sie nun.
    Cnaiür ging auf, dass der Dunyain sich anders verhalten hätte.
    Kellhus hätte entweder einen raffinierten Weg gefunden, die Umstände zu beherrschen, oder er wäre geflohen. War das nicht auch in Caraskand geschehen? Hatte er dort nicht einen Weg der Wunder eingeschlagen, um sich durchzusetzen? Er hatte nicht nur die verfeindeten Gruppen innerhalb der Inrithi vereint, sondern ihnen auch die Mittel gegeben, nach außen hin Krieg zu führen.
    Hier dagegen gab es keinen solchen Weg – jedenfalls keinen, auf den Cnaiür gekommen wäre.
    Warum also nicht fliehen? Warum sein Los mit Todgeweihten teilen? Um der Ehre willen? Ehre gab es nicht. Um der Freundschaft willen? Er war aller Welt Feind. Sicher herrschte dort, wo Interessen zufällig übereinstimmten, Waffenruhe; aber sonst nichts. Jedenfalls nichts von Bedeutung.
    Das hatte Kellhus ihn gelehrt.
    Er kicherte, als ihm dies klar wurde, und für einen Moment geriet die Welt ins Wanken. Ihn überkam ein so intensives Machtgefühl, dass ihm schien, etwas Anderes könne aus seinem Körper fahren, und er brauche nur die Arme auszubreiten, um Jokthas Mauern aus den Fundamenten zu reißen und sie bis zum Horizont zu schleudern. Keine Vernunft band ihn. Nichts. Keine Skrupel, kein Instinkt, keine Gewohnheit, keine Berechnung, kein Hass… Er befand sich jenseits von Anfang und Ende. Im Nirgendwo.
    »Die Männer fragen sich«, bemerkte Troyatti vorsichtig, »was Euch so amüsiert, Herr.«
    Cnaiür lächelte. »Dass mein Leben mir einst wichtig war.«
    Schon als er das sagte, hörte er ein seltsames Brummen, als würden Insekten durch die rätselhafte Welt ringsum schwirren. Worte drangen durch diese Geräusche wie Flammen durch Rauch, und es krümmte die Seele, sie nur zu hören, als sei Bedeutung eine verzerrende Gewalt geworden…
    Heller Glanz. Eine Kette von Feuern schlug über die Zinnen. Plötzlich schien der Wachtturm ein Schild zu sein, der gegen ein blendendes Licht gehalten wurde. Ein Späher stürzte brennend ab und schlug im Fallen um sich.
    Sie kamen.
    Im Innern des Wachtturms zeichneten leuchtende Linien die Fugen des mit Eisenbändern verstärkten Tors nach. Ein goldener Faden loderte in seiner Mitte auf, und im Nu krachten die Flügel nach außen gegen das Fallgitter. Eisen kreischte. Stein barst. Noch eine Explosion. Wie ein Hornruf quoll Licht aus dem Tordurchlass. Das Fallgitter segelte in das alte Mietshaus aus ceneischer Zeit. Eine Rauchwalze rollte über die Gebäude am Marktplatz hinweg und die Straße zum Hafen hinunter.
    Cnaiür blinzelte Flecken aus den Augen. Alles war dunkel geworden. Seine Krieger husteten und fächelten mit den Händen wild in der Luft herum, erstarrten aber, als sie das immer lauter werdende Gebrüll hörten: schreiende Männer – zu Tausenden.
    Der Lärm hielt ungemein lange an und wurde sogar noch drohender… Fußsoldaten der Nansur tauchten mit zum Angriff gesenkten Speeren und erhobenen Rechteckschilden aus dem schwarzen Schlund des Wachtturms auf. Eine Reihe nach der anderen kam schreiend angerannt. Sie bildeten links und rechts des Platzes Schildwälle, schlugen auf die Türen des Wachtturms ein und hetzten die Straße zum Hafen hinunter. Cnaiür kannte die Grundsätze ihrer Ausbildung: Sie würden einen wuchtigen Schlag ins Zentrum des Feindes führen und den Gegner zugleich über die Flanken angreifen, um die Kämpfer auseinanderzusprengen. »Der weise Speer«, hämmerten die kaiserlichen Offiziere ihren Mannschaften ein, »trifft den fliehenden Feind!«
    Wie schimmernde Schatten sauste Nansur für Nansur am Eingang der verlassenen Stallung vorbei. Hunderte hetzten zum Hafen hinunter. Ihre Helme glänzten im Mondlicht, ihre bleichen Waden tanzten im Dunkeln. Dann tönte das erste Horn durch die Finsternis. Cnaiür sah, wie sich auf der anderen Straßenseite wildhaarige Thunyeri mit ihrem zermürbenden Schlachtruf aus den Fenstern im ersten Stock des Mietshauses stürzten.
    Stahl klirrte. Schilde klapperten, und alles verschmolz zu einem ohrenbetäubenden Lärm.
    Beinahe synchron hielten die Nansur an und drehten sich um. Einige sprangen sogar hoch, um die Äxte links von ihnen besser sehen zu können. Ein paar vorsichtige Seelen musterten ängstlich die schwarzen Fenster und Eingänge ringsum.
    Dann erklang das zweite Horn.

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