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Der tausendfältige Gedanke

Der tausendfältige Gedanke

Titel: Der tausendfältige Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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verleiten«.
    Das beunruhigte den frommen jungen Grafen sehr. Am gleichen Abend rief er seine Hauptmänner zur Beratung zusammen. Wenn jemand sich zu Unbesonnenheiten veranlasst sehen sollte – so befanden sie –, dann war es Coithus Athjeäri. Auf alten Landkarten der Nansur steckten sie eine Strecke ab, die von einem heiligen Ort zum nächsten führte. Nachdem sie kniend ihr Tempelgebet verrichtet hatten, gesellten sie sich zu ihren Kettenhemd tragenden Landsleuten ans Feuer. Ihre Pferde aus Eumarna und Mongilea wurden aus dem Dunkeln geführt, und sie saßen unter großem Hurra auf. Dann ritten sie wortlos in die mondbeschienenen Hügel.
    So begann, was man später Athjeäris Wallfahrt nannte.
    Erst nahm er Chargiddo in den Ausläufern der Betmulla-Berge in Augenschein. Seit sie nach Xerash gekommen waren, hatten die Männer des Stoßzahns viel von dieser alten Festung gehört, und der Kriegerprophet hatte Athjeäri gebeten, ihm einen Bericht über die Anlage zukommen zu lassen. Nachdem er Boten mit Skizzen und Schätzungen zu Kellhus geschickt hatte, zog er durch die Ausläufer der Berge. Zweimal überraschte er Kianene, die unter dem Banner Cinganjehois ritten, und trieb sie auseinander. Doch das auf einem Hügel gelegene Dorf Museiah und sein Heiligtum – der Ort also, an dem der Letzte Prophet Horomon das Augenlicht zurückgegeben hatte – waren nur noch rauchende Ruinen.
    In den Trümmern dieses Heiligtums schworen sie einen mächtigen Eid.
    In der Zwischenzeit stießen die letzten Teile des Heiligen Kriegs vor den Mauern von Gerotha zu ihren Brüdern. Dass die Xerashi keine Ausfälle machten, zeugte von ihrer Schwäche, und im Rat der Hohen und Niederen Herren drängten Hulwarga und Gothyelk auf einen sofortigen Angriff. Doch der Kriegerprophet tadelte sie, nicht ihre Zuversicht, sondern die Nähe des Ziels lasse sie den Angriff so ungeduldig fordern. »Wo Hoffnung lodert«, sagte er, »wird Geduld rasch ein Opfer der Flammen.«
    Sie müssten nur warten, erklärte er, und die Stadt falle von selbst.
    Musik war das Erste, was Esmenet an dem Tag hörte, an dem sie die Sagas zu lesen begann.
    Sie befand sich in jenem Schwebezustand, der unmittelbar nach dem Erwachen so typisch ist – in einem Zwielicht des Denkens, in dem es weder Ichgefühl noch Raum, dafür aber eine schmerzhafte Wachheit gibt. In diesem Zustand drang Musik an ihr Ohr, wie sie halb benommen erkannte; Musik, die sie lächeln ließ. Trommelnde Finger, kühn und dramatisch angeschlagene Saiten: es war Musik der Kianene, die in einem der vielen Zeltgemächer des Nabels gespielt wurde.
    »Ja! Ja!«, rief eine gedämpfte Stimme während des Spiels. Esmenet lauschte aufmerksam und hoffte, seine Stimme durch die Musik oder die Geräusche des erwachenden Lagers hindurch zu vernehmen. Es schien immer, als lasse seine Stimme alle Geräusche verstummen. Das Lied geriet ins Stocken und ging gleich darauf in Gelächter und vereinzeltem Klatschen unter.
    Es war am Morgen des vierten Tages, den sie nun vor Gerotha und seinen trutzigen Mauern lagen. Nachdem Esmenet sich übergeben hatte, kämpfte sie mit dem Frühstück, während ihre Leibsklavinnen sich um ihre Kleider kümmerten. Yel und Burulan rollten die Augen, als Fanashila die morgendliche Musik in ihrem gebrochenen, aber immer besseren Scheyisch erklärte. Offenbar hatten drei gefangene, als Diener versklavte Xerashi Gayamakri gebeten, ihre musikalischen Fähigkeiten vorführen zu dürfen. Überdies, fuhr das Mädchen fort, sei einer von ihnen sogar hübscher als der Prinz von Conriya, den sie freilich Poyus nannte, was Yel laut lachen ließ.
    »Sklave darf Sklave doch heiraten, Herrin?«, platzte Fanashila nach kurzer Pause heraus.
    Esmenet lächelte, konnte aber wegen eines plötzlichen Schmerzes in der Kehle nur nicken.
    Danach besuchte sie Moënghus und überstand Opsaras zornigen Blick. Wie immer staunte sie darüber, dass der Junge von Tag zu Tag größer aussah, vermied es allerdings, zu lange in seine türkisfarbenen Augen zu sehen. Sie dachte an Serwë und tadelte sich dafür, das Mädchen nicht zu vermissen. Dann dachte sie an den Funken im eigenen Schoß.
    Nachdem sie von Hauptmann Heörsa über alle Einzelheiten der Belagerung informiert worden war, traf sie sich mit Werjau, um die Meldungen durchzugehen. Die Lage wirkte trügerisch normal – von den gemeldeten Vorfällen bis zur ständigen Herausforderung, in einem marschierenden Heer ein Netz von Kontaktpersonen und Informanten zu

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