Der tausendfältige Gedanke
unterhalten. Mittlerweile hatten alle gelernt, auf unsicherem Boden zu stehen, doch täglich schien einer zu verschwinden und ein anderer aufzutauchen. Bis auf die Musiker aus Xerash erschien nur eines von Belang: das Verhalten von Lord Uranyanka und seinen Vasallen aus Moserothu. Obwohl er die Massaker bei Sabotha öffentlich bereut hatte, schimpfte er im kleinen Kreis weiter über den Kriegerpropheten. Uranyanka war nicht nur ein Narr – er war auch böse. Esmenet hatte mehrmals zu seiner Verhaftung geraten, doch Kellhus hielt den Pfalzgrafen der Ainoni für zu wichtig und zählte ihn zu jenen, die eher beschwichtigt als ermahnt werden mussten.
Ihre Pflichten als Intricati beschäftigten Esmenet bis weit in den Nachmittag hinein. Sie hatte sich so an ihre Aufgaben gewöhnt, dass sie ihr langweilig wurden, vor allem, wenn es um Verwaltungsfragen ging. Manchmal sah sie alles mit ihren alten Augen und ertappte sich dabei, die Männer ringsum zu taxieren, wie eine ihres Gewerbes überdrüssige Hure das mit ihren Freiern tat. Plötzlich achtete sie dann auf Kleidung und Distanz und fühlte sich so unantastbar, dass ihre Haut prickelte. All die Handlungen, die sie nicht ausführen, all die Stellen, die sie nicht berühren durften… Diese verbotenen Möglichkeiten schienen über ihr zu schweben wie der Rauchschleier unter der Zeltdecke.
Ich bin tabu, dachte sie dann.
Warum ihr das ein solches Gefühl von Reinheit gab, wusste sie nicht zu ergründen.
Am späten Nachmittag verblüffte sie Proyas, indem sie ihn bei einer längeren Erörterung der neuesten Kundschafterberichte lachend Lord Poyus nannte. Ihre Anflüge schelmischen Humors stießen bei ihm auf taube Ohren – und zwar nicht nur, weil er aus Conriya stammte und deshalb einen ausgeprägten Sinn für Galanterie hatte, sondern weil er noch immer bedauerte, dass sie einander nicht mehr in wechselseitiger Abneigung verbunden waren. Ihr Abschied fiel entsprechend verlegen aus. Nachdem sie von Werjau hinsichtlich der Musiker aus Xerash auf den neuesten Stand gebracht worden war, gelang es ihr, den Nascenti und ihren ewigen Nachfragen zu entkommen. Dann aber stellte sie fest, dass sie nichts zu tun hatte. So fand sie zu den Sagas.
Sie empfand das Lesen noch immer als Übung, obwohl sie es seit einiger Zeit recht mühelos beherrschte. Eigentlich wartete sie nicht nur sehnsüchtig auf Gelegenheiten zu lesen, sondern musterte ihre bescheidene Sammlung an Schriftrollen und Büchern oft mit der gleichen Kleinlichkeit, mit der sie ihren Kosmetikkasten betrachtete. Während die Schminke aber nur die Ängste ihres früheren Ichs linderte, waren die Schriften etwas ganz anderes – etwas, das eher verwandelte als stärkte. Sie hatte den Eindruck, die Tintenbuchstaben seien Sprossen einer Leiter oder ein sich endlos abwickelndes Seil – etwas, das ihr stets höher zu klettern und immer mehr zu sehen erlaubte.
»Du hast die Lektion gelernt«, hatte Kellhus bei einem ihrer seltenen gemeinsamen Frühstücke gesagt.
»Welche?«
»Dass die Lektionen kein Ende haben.« Er hatte gelacht und vorsichtig an seinem dampfenden Tee genippt. »Dass die Unwissenheit unendlich ist.«
»Wie können die Leute nur annehmen, Gewissheit gefunden zu haben?«, hatte sie so ernst wie erfreut gefragt.
Kellhus hatte auf die verschmitzte Weise gelacht, die sie so liebte.
»Sie glauben, mich zu kennen«, war seine Antwort gewesen.
Esmenet hatte ein Kissen nach ihm geworfen und zugleich das Wundersame ihres Handelns empfunden: ein Kissen nach einem Propheten zu werfen!
Sie kniete sich vor die mit Elfenbeinreliefs besetzte Truhe, die ihre Bibliothek enthielt, hob den Deckel und drückte ihn nach hinten. Wie immer genoss sie den Geruch der gefetteten Einbände. Die Truhe enthielt nur wenige Bücher, denn die Fanim von Caraskand hatten an götzendienerischen Werken wenig Interesse gehabt, erst recht nicht an deren scheyischen Übersetzungen. Da keiner ihrer Sklaven lesen konnte, hatte sie die Werke selbst auswählen müssen und war zu diesem Zweck die Bücherregale und Schriftrollenborde in Achamians früherem Gemach durchgegangen. Damals hatte sie die Sagas nur widerwillig eingepackt, und als sie die Schriftrollen nun unter den Werken des Protathis entdeckte, empfand sie den gleichen Widerwillen. Missmutig nahm sie sie, trug sie zu ihrem Bett und staunte, wie leicht die Apokalypse wog. Sie lehnte sich an ihr Lieblingskissen und strich über das Pergament, das sie gleich ausrollen würde. Dabei
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