Der Tee der drei alten Damen
hübsche Stunden? Nun, gute Nacht, mein Junge. Mach's gut.«
»Gute Nacht, Colonel.«
Dann war die Bank leer. Ein Wind, der von den Voirons kam, bemühte sich, das Loch zu füllen, das der heiße Spiegel des Sees in die Luft gebrannt hatte.
5
Baranoff, wie sich Agent 72 in Genf nannte, jener Mann mit der großporigen Gesichtshaut, der den alten Professor in der Latham-Bar so sehr erschreckt hatte, bewohnte in einem kleinen unscheinbaren Hotel an der Route de Chêne ein einfaches Zimmer. Er empfing wenig Besuch. Des Morgens kam seine Privatsekretärin, jene Natalja Kuligina (Agentin 83), die bei Fräulein Sorel wohnte und brachte ihm Briefe, die sie zuvor aus einem Postfach an der Rue d'Italie geholt hatte. Dann sah Herr Baranoff viele Zeitungen durch, ausländische und einheimische, und dann diktierte er gewöhnlich einige Antworten.
Am heutigen Morgen war er guter Laune, hatte sich in einen Plüschsessel vergraben und lutschte an dem Kartonmundstück einer ausgegangenen Zigarette. Dazu summte er Melodiefetzen. Er begann mit den »Wolgaschleppern«, wechselte hinüber zu »Valentine« und endete mit der »Internationale«. Er summte die Melodien falsch, aber immerhin erkennbar. Da trat Natascha ein.
»Guten Morgen«, sagte Baranoff gnädig, »gut geschlafen, Natascha?«
Ja, er nannte seine Sekretärin Natascha, und seine Sekretärin hatte nichts dagegen. Denn Herr Baranoffs Erotik hatte sich schon lange zu einer allgemeinen Liebe für die Verdammten dieser Erde sublimiert, der etwa übriggebliebene Rest beschäftigte sich mit gutem Essen und Trinken. Herr Baranoff hatte einen Spitzbauch.
Natascha nickte, ohne eine Gegenfrage zu tun. Herr Baranoff empfand dies nicht als Beleidigung. Er wußte, Natascha war schweigsam. Er streckte die Hand aus, empfing zwei Briefe, einen Stadtbrief und einen Brief mit einer indischen Marke.
»Sie sollten den Professor in Ruhe lassen, Kostja.« (Herr Baranoff hieß Konstantin, es war die Schuld seines Vaters, der in einer kleinen russisch-polnischen Stadt koscheres Fleisch verkauft hatte, und auch eine Pension hatte er gehabt, die aber hatte die Mutter geführt. Konstantin klingt nicht jüdisch, hatte der Vater gedacht, denn es war damals die Zeit der Pogrome, und in einem Pogrom war der alte Vater erschossen worden.)
»Mmmhmm«, brummte Herr Baranoff, in den tiefen Lagen anfangend, dann steigend. »Und warum das?«
»Weil es schmutzig ist, der Mann weiß doch nichts, warum wollen Sie ihn zugrunde richten?«
»Darum«, sagte Herr Baranoff. »Weil er ein Intellektueller ist, weil er mir in meine Angelegenheiten hineinpfuschen will, weil ich der Dritte bin, der den Vorteil hat, wenn zwei sich prügeln. Der indische Fürst und England auf der einen Seite – das amerikanische Kapital auf der andern, wer trägt den Sieg davon? He? Wetten, daß es Kostja ist? Und dann setzt sich Kostja zur Ruhe, aber nicht im Sowjetparadies, in Paris vielleicht, ja, oder in Burgund, dort ist die Küche noch wunderbar, nicht zu sprechen vom Wein.«
»Und Sie verraten die Partei?« fragte Natascha böse. »Haben Sie nicht Angst, daß ich Sie anzeige?«
»Verrate? Die Partei? Du schnappst über, mein Kind. Ich will nur Provision, und die teilen wir. Das Geschäft kann die Partei dann allein aufziehen. Ich nehme Provision rechts, nehme Provision links und betrüge auf beiden Seiten. Aber ehrlich bleibe ich, denn schließlich bekommt Rußland doch die Sache in die Hand. Und Geld stinkt nicht. Non olet«, fügte er hinzu, um zu zeigen, daß er das Gymnasium besucht hatte.
Dann hatte er plötzlich den Brief mit der indischen Marke in der Hand, öffnete ihn mit seinem aufgeklappten Taschenmesser, studierte ihn lange, nahm auch ein kleines Notizbuch zuhilfe sowie einen Bogen weißen Papiers, auf welchem er Berechnungen anzustellen schien, räusperte sich, schien etwas sagen zu wollen, schwieg aber wieder. Natascha hatte eine Reiseschreibmaschine unter dem Bett hervorgezogen, das Frühstücksgeschirr auf dem Tisch beiseite gerückt, sich niedergesetzt und gewartet. Dann wurde sie ungeduldig, ging ans Fenster und öffnete es. Herein drang der Geruch von feuchtem Asphalt, ein Sprengautomobil zog die weißen Fächer seiner Wasserstrahlen an den Bordschwellen entlang. Ein kleiner Milchwagen, blau wie ein himmlisches Schaf, rasselte aufgeregt mit einer Glocke.
Da hörte Natascha Herrn Baranoff sagen: »Hör zu.« Sie drehte sich um, kam langsam auf den Tisch zu, setzte sich und stützte das runde Gesicht in
Weitere Kostenlose Bücher