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Der Tee der drei alten Damen

Der Tee der drei alten Damen

Titel: Der Tee der drei alten Damen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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da verborgen?« fragte O'Key und deutete auf die geschlossene Hand. Da öffnete sie der Professor und ließ ein weißes, glänzendes Ding, kaum zwei Zentimeter lang, auf den Tisch fallen. Beim Aufschlagen auf die Holzplatte war kein Geräusch zu hören. O'Key nahm das Ding in die Hand und schüttelte verwundert den Kopf.
    Die Spitze, kaum vier Millimeter lang, sah aus wie das obere, abgebrochene Stück einer Hohlnadel. Sie war auf einer runden Kugel aus rotem Kautschuk angebracht, die selber wohl kaum einen halben Zentimeter im Durchmesser hatte. Und an diese winzige Kautschukblase war hinten ein lockerer Wattebausch angeklebt. Professor Dominicé drehte das Ding zwischen den Fingern, nachdem es ihm O'Key wieder eingehändigt hatte, und sagte verträumt:
    »Wenn man bedenkt, daß der Tod auch diese kleine Gestalt annehmen kann! Ein perfektionierter Giftpfeil. Kam da auf mein Pult geflogen, und niemand sah ihn fliegen bei dieser Aufregung. Nun, die allgemeine Aufregung hat auch ihr Gutes gehabt, der Schütze hat nicht gut zielen können oder sein Atem hatte nicht genügend Kraft. Aber wie sinnreich ist dies konstruiert. Begreifen Sie?« O'Key schüttelte ein wenig ratlos den Kopf; Jakob starrte gebannt auf des Professors Hände.
    »Es ist doch ganz einfach«, fuhr Dominicé geduldig fort, »sitzt die Spitze in der Haut, so wird der kleine Kautschukball durch seine Trägheit gegen die Spitze gepreßt, buchtet sich ein und drückt die Flüssigkeit unter die Haut. Nehmen Sie an, es hätte mich ins Gesicht getroffen, alle im Saale Anwesenden hätten beschwören können, ich sei von einer Wespe oder sonst von einer giftigen Fliege gestochen worden. Darum das Theater mit den Fliegenschwärmen. Und wenn ich ein paar Stunden später an Starrkrampfsymptomen verschieden wäre, hätte kein Mensch an eine Vergiftung geglaubt. Ja«, seufzte er, »ich glaube, das Gift wird den Chemikern noch einige Schwierigkeiten bereiten. Wahrscheinlich eine Mischung aus Ouabaïn, Echujin, Erythrophläin, alles schöne Namen, die ziemlich häßliche Bilder liefern, wenn sie ein Mensch unter die Haut bekommt. Afrika, Asien, Südseeinseln. Der Mann, der das Gift gebraut hat, besitzt unzweifelhaft Kenntnisse. Die Pfeilgifte der sogenannten Naturvölker sind gewöhnlich dickflüssige Stoffe. Um solch eine wasserklare Flüssigkeit herstellen zu können«, Dominicé drückte leicht auf den Gummiball und ein heller Tropfen erschien an der Spitze der Nadel, »muß man schon ziemlich viel in Laboratorien gearbeitet haben. Ich habe schon vor einiger Zeit von dem Vorhandensein dieser Waffe gehört, man hat mir damit gedroht, aber ich habe mich nicht darum gekümmert; jetzt scheint es aber Ernst zu werden…«
    Die Türe des Saales wurde aufgerissen, zwei Pedelle stürzten herein, und jeder trug in der Hand eine jener gelben Spritzen, die Fliegenbetäubungsmittel enthalten. Sie schauten sich verdutzt im Saal um, als sie die Drei ruhig auf dem Podium sprechend fanden, und erkundigten sich ängstlich, wo denn die Fliegenscharen hingekommen seien, die im Auditorium eine Panik hervorgerufen hätten.
    »Beruhigen Sie sich«, sagte Dominicé, während er sich von seinem Stuhl erhob. »Es ist alles in Ordnung. Gott«, fügte er hinzu, »wie leicht, wie unendlich leicht wäre es, wenn man allen Wahngebilden mit Fliegenspritzen beikommen könnte.«
    Er stützte sich auf Jakobs Arm, winkte O'Key freundlich: »Auf heute abend, lieber Freund«, und schritt aufrechten Ganges durch die Tür.
    Auf den Stufen, auf den Absätzen, standen noch dichtgedrängt die Leute, die aus dem Saale geflohen waren. Sie drückten sich beiseite, an die Mauern, so eng sie konnten, um nur ja nicht mit dem vorbeischreitenden Professor in Berührung zu kommen. Dominicé lächelte. »Siehst du«, sagte er zu Jakob, »sie halten mich für einen Zauberer. Was für angehende Wissenschaftler betrübend ist, aber menschlich begreiflich. Grab den Menschen um, und immer wirst du eine Schicht finden, die alt ist, uralt, Millionen Jahre vielleicht, wer weiß?«
    Dann saßen die beiden auf einer Bank in der Promenade des Bastions. Die Abendsonne schien durch die Bäume, warm und geduldig, und beleuchtete die Gruppe der Reformatoren, die, an die lange gelbe Wand gestellt, sehnsüchtig und ewig versteint, auf das Exekutionspeloton zu warten schienen, das nie erschien.
    Professor Dominicé legte seinen breitrandigen Hut neben sich, legte die Ellbogen auf die gespreizten Oberschenkel und faltete die Hände.

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