Der Tempel der vier Winde - 8
Wahrheit davor bewahrt.
Das Schwert der Wahrheit.
Richard war der Sucher. Genau das taten Sucher schließlich: Sie lösten Probleme. Sie liebte den Sucher. Er würde nicht einfach aufgeben. Kahlan pflückte ein Blatt ab und zerriß es in kleine Streifen, während sie sich alles, was ihr Shota erzählte hatte, abermals durch den Kopf gehen ließ. Was durfte sie glauben? Das alles kam ihr inzwischen vor wie ein Traum, aus dem sie im Begriff stand zu erwachen. Die Dinge konnten einfach nicht so hoffnungslos stehen, wie sie geglaubt hatte. Ihr Vater hatte ihr beigebracht, niemals aufzugeben, mit jedem Atemzug zu kämpfen, bis zum letzten, wenn es sein mußte. Und auch Richard würde nicht so ohne weiteres eine Niederlage eingestehen. Noch längst war es nicht vorbei. Die Zukunft war weiterhin die Zukunft, und was Shota auch gesagt hatte, bislang war gar nichts entschieden.
Irgend etwas an ihrer Schulter störte sie. Während sie ihren Gedanken nachhing, schlug sie kurz mit der Hand danach, dann begann sie wieder, Streifen von dem großen Blatt abzureißen. Es mußte einen Weg geben, wie sich das Problem lösen ließe.
Als sie sich zum zweiten Mal auf die Schulter schlug, berührten ihre Finger das Knochenmesser. Es fühlte sich warm an.
Kahlan zog das Messer heraus und hielt es in ihrem Schoß. Es war warm, schien zu pulsieren und zu vibrieren, ja, wurde so heiß, daß es unangenehm wurde, es in der Hand zu halten.
Staunend verfolgte Kahlan, wie die schwarzen Federn sich aufrichteten.
Sie tanzten und flatterten und drehten sich wie in leichtem Wind. Ihr Haar hing schlaff herab. Die Luft stand vollkommen still. Kein Lüftchen wehte. Kahlan sprang auf.
»Sliph!«
Das silbrige Gesicht der Sliph war sofort neben ihr, ganz nah. Kahlan trat erschrocken einen Schritt zurück.
»Sliph, ich muß reisen.«
»Wir werden reisen, komm. Wohin möchtest du?«
»Zu den Schlammenschen. Ich muß zu den Schlammenschen.« Das flüssige Gesicht legte sich nachdenklich in Falten. »Diesen Ort kenne ich nicht.«
»Es handelt sich nicht um einen Ort, sondern um Menschen. Menschen« – Kahlan tippte sich vor die Brust – »wie ich.«
»Ich kenne verschiedene Menschenvölker, aber diese Schlammmenschen sind mir unbekannt.«
Kahlan strich ihr Haar zurück und versuchte nachzudenken. »Sie leben in der Wildnis.«
»Ich kenne verschiedene Orte in der Wildnis. An welchen möchtest du reisen? Nenne ihn, und wir werden reisen. Du wirst erfreut sein.«
»Na ja, es handelt sich um einen Ort, wo es flach ist. Grasland. Flaches Grasland. Keine Berge wie hier.« Kahlan deutete auf die Umgebung, dann wurde ihr aber bewußt, daß die Sliph außer den Bäumen nichts sehen konnte.
»Ich kenne mehrere Orte, die so sind.«
»Welche denn? Vielleicht erkenne ich sie wieder.«
»Ich kann an einen Ort reisen, von dem aus man den Fluß Callisidrin überblickt –«
»Westlich des Callisidrin. Die Schlammenschen leben weiter westlich.« »Ich kann in das Tal Tondelen reisen, zur Harjaschlucht, in die Keaebene, nach Sealan, Herkon, Split, Anderith, Pickton, zum JocopoSchatz –«
»Wohin? Wie lautete das letzte?« Die meisten anderen Orte, die die Sliph genannt hatte, kannte sie, die jedoch lagen nicht in der Nähe der Schlammenschen.
»Der Jocopo-Schatz. Möchtest du dorthin reisen?«
Kahlan hielt das Knochenmesser in der Hand – das Messer des Großvaters. Chandalen hatte ihr erzählt, wie die Jocopo Krieg gegen die Schlammenschen geführt und die Ahnenseelen Chandalens Großvater darin unterrichtet hatten, wie er sein Volk gegen die Jocopo verteidigen konnte. Weiter hatte Chandalen ihr berichtet, früher, vor dem Krieg, hätten sie mit den Jocopo Handel getrieben. Die Jocopo mußten ganz in der Nähe der Schlammenschen leben.
»Sag das letzte noch einmal.«
»Der Jocopo-Schatz.«
Auf die hallenden Worte hin fingen die schwarzen Federn an zu tanzen und sich zu drehen. Kahlan schob das Knochenmesser wieder unter das Band an ihrem Oberarm. Sie war mit einem Sprung auf der Steinmauer.
»Dahin will ich. Zum Jocopo-Schatz. Kannst du mich dorthin bringen, Sliph?«
Ein silbriger Arm hob sie mit einer gleitenden Bewegung von der Steinmauer herunter. »Komm. Wir reisen zum Jocopo-Schatz. Du wirst erfreut sein.«
Kahlan holte noch einmal rasch Luft, dann stürzte sie in die Gischt aus Quecksilber. Sie atmete aus und sog die Sliph in sich hinein, doch betrübt vom Kummer, Richard zu verlieren, empfand
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